Betrachtet an der Fülle der Umwälzungen, die Martin Luthers Wirken mit sich brachte, stellt sich der erfahrene Cineast folgende Frage: Wie schafft man es, diese vielschichtige Person, deren Taten untrennbar mit einer Epoche großer und wichtiger Veränderungen einhergehen, filmisch so darzustellen, daß es zu großem Kino wird und nicht zu einer Anreihung historischer Fakten verkümmert?
Eines vorweg, Regisseur Eric Till präsentiert hier eine gelungene Mischung aus gut inszenierter Dramatik und vertretbarer Auflistung historischer Fakten. Im Vordergrund steht jedoch nach wie vor, so wie das im Kino eben sein muß, das Erzählen einer Geschichte, der Geschichte Luthers. Wer hier also einen theologischen Diskurs über Werk- oder Glaubensgerechtigkeit erwartet, der sollte sein Geld lieber in ein Lexikon investieren als in eine Kinokarte.
Das Fehlen dieser theologischen Grundsätze macht den Film aber authentischer, emotionaler und bringt ihn dadurch näher zum Menschen. Luther selbst galt ja auch nicht als Philosoph oder großer Wissenschaftler, sondern als ein Mensch, der seine starke Überzeugung aus einer tiefen Religiosität schöpfte und den Perlen seiner Erkenntnis sehr emotional Raum gab.
Es leuchtet ein, daß der Film aufgrund der vielen wichtigen historischen Details, die für das Verständnis dieser Person und seiner Zeit unerläßlich sind, sehr „dicht“, fast überladen erscheint. Diese „Informationsdichte“ wirkt sich des öfteren auf das Erzähltempo aus und damit auf die Intensität, mit der ein emotionaler Moment gehalten und wieder aufgelöst wird. Die Spannungskurve ist hier eher eine hoch angesetzte Gerade! Alles an dem Film, jeder Satz scheint wichtig. Bedeutende Ereignisse geben sich „die Klinke in die Hand“.
Trotz dieses „Handlungsmarathons“ ließ es sich der Regisseur bei seinem 120-Minuten-Drama nicht nehmen, alle wichtigen Stationen in Luthers Leben aufzuführen. Von dem schicksalhaften Gewitter angefangen, das Luther (dargestellt von Joseph Fiennes) den Schwur zum Mönch abrang, die Zeit im Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt, die Jahre in Wittenberg als angehender und später praktizierender Theologieprofessor, bis zu seiner Reise nach Rom, wo Wut in ihm entsteht über die Praxis des Ablaßhandels und die Dekadenz des Klerus, was später den berühmten Anschlag der 95 Thesen zur Folge haben wird.
Exkommunizierung und Reichsacht während des Reichstags zu Worms sind weitere Stationen, sowie die Übersetzung des Neuen Testaments in die deutsche Sprache auf der Wartburg. Bauernaufstände, die Heirat mit Katharina von Bora und schließlich der Triumph der Kurfürsten über Kaiser und Kirche und damit die Abspaltung des reformierten Zweiges von der katholischen Kirche.
Luthers innere Glaubenskämpfe, die im sogenannten Turmerlebnis gipfeln und die Grundlage des Protestantismus darstellen, werden im Film durch mehrere Dialoge mit dem „geistigen Vater“ und Vorsteher des Augustinerklosters, Johann von Staupitz, allerdings nur sehr ansatzweise dargestellt. Die Erkenntnis im Turm des Schwarzen Klosters zu Wittenberg wird Luther eigentlich durch das Studium des Römerbriefes zuteil (Brief des Apostels Paulus an die christliche Gemeinde in Rom mit dem Thema „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?“). Die Grundlage der Erkenntnis ist: der Kreuzestod und die Auferstehung Christi ist schon die Erlösung des Menschen.
Der Mensch hat nichts anderes zu tun, als diese Gnade anzunehmen. Dieses Gottesgeschenk ist durch kein Werk des Menschen zu übertreffen. Nicht gute oder große Taten noch kirchlicher Ablaß, sondern nur das Annehmen dieses Geschenkes ist es, was den Menschen vor Gott bestehen läßt. Jenes Erlebnis gründet in Luther schließlich das Fundament für ein neues Gottesbild. Ein Bild, welches die Einseitigkeit im Glauben des Spätmittelalters relativieren wird und die Christus-Botschaft „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ stärker ins Zentrum rückt.
Der Zuschauer taucht ein in eine Zeit, die geprägt ist von Glaube und Aberglaube, Tod und Teufel, von Gottesfurcht, Standesdünkel und Menschenverachtung. Zwischen dem Schöpfer und den Menschen erhebt sich das Bollwerk der Kirche, welche mit der Angst vor dem Fegefeuer und Teufel, mit dem Erinnern der Bürde eines ewigen Sühnezwanges die Menschen für ihre eigenen, weltlichen Zwecke gefügig macht und sich dadurch ein lukratives Geschäft aufbaut.
Unter den Anstrengungen dieses „Geschäftes“ leidet besonders die ländliche Bevölkerung, die durch die immer höher werdende Abgabenlast zunehmend verarmt. Zu der materiellen Verarmung gesellt sich aber auch eine seelische, da die weltlichen Bedürfnisse des Papstes gegenüber den religiösen Bedürfnissen der Menschen Vorrang haben. Die Folge dieses Vertrauensbruches schlägt sich in Wundergläubigkeit, Sensationslust und Frömmigkeit des Landvolkes nieder, das filmisch fast nebenbei als rein visuelle Personalstudie bei Dialogen sichbar ist.
Ein besonderer Dorn im Auge ist Luther der Ablaßhandel („Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt“) und die Reliquienverehrung. Die im Film gut inszenierte „Show“ des erfolgreichsten Ablaßpredigers, Dominikanermönch Johann Tetzel, ist es nachher auch, welche Luther wutentbrannt zum Anschlag seiner 95 Thesen an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg bewegt (ob es sich in Wirklichkeit in dieser Form abgespielt hat, wird heute bezweifelt).
Zu dieser Zeit konnte man nämlich, einen Obolus vorausgesetzt, sich und andere von Jahren des Fegefeuers „freikaufen“. In Folge Luthers scharfer, aber durchaus angebrachter Kritik am Gebaren der Kirche versiegt der Geldstrom aus dieser Einnahmequelle für den Papst beinahe gänzlich.
Die Selbstgefälligkeit, mit der Uwe Ochsenknecht Papst Gregor den X. darstellt, gibt einen kleinen Geschmack auf die weltlichen Ansprüche, welche die Kirche damals hatte. Der Papst hegte Pläne, den Petersdom mit der finanziellen Hilfe der kaiserlichen Financiers, der Fugger, erbauen zu lassen. Die Abzahlung der Kredite sollte durch den Ablaßhandel Johann Tetzels stattfinden. Es wird einem schnell klar, warum das „ …kleine, versoffene, deutsche Mönchlein…“, wie Luther spöttisch bezeichnet wurde, den Ärger des Papstes auf sich zog.
Eindrucksvoll sind auch die Szenen, in denen Luther, eingeschlossen in seinem mehr als spartanischen Refugium (im Film zu sehen ist eine Nachbildung des Lutherzimmers), mit dem Teufel wegen seiner „Lasterhaftigkeit“ streitet und hoffnungslos ausgeliefert scheint – hin- und hergeworfen zwischen den in seiner Vorstellung lebenden Protagonisten: hier ein menschenverachtender, feindlicher Teufel, dort ein oberlehrerhafter Schöpfer, der die Szenerie beobachtet, Verfehlungen mit Strenge, Liebesferne ahndet und mit Strafen züchtigt.
In Luthers tiefster Verzweiflung fragt ihn Johann von Staupitz, was er denn eigentlich suche, worauf aus dem ergriffenen Luther steigt: „Einen Gott, der mich liebt, ein Gott, den ich lieben kann!“ Wie gespalten erscheint Luther doch in dieser wichtigen Szene! Er will seinem Schöpfer nahe sein, sein Glaube ist stark, doch da ihm wahrhaftes Wissen über den Höchsten fehlt und er ein falsches Bild voraussetzt, kann in ihm keine Überzeugung entstehen.
Er ist zerrissen zwischen dem Ruf seiner inneren Stimme und dem damaligen konfessionell geprägten Bild Gottes, das ihm widerstrebt. Wie vielen geht das heute noch so? Wie viele hören den inneren Ruf, spüren dessen Authentizität, schrecken aber vor dem oft unlogischen Gebilde aus Menschenhand zurück und verwerfen ihre Suche nach Wahrheit komplett!
Wie hoffnungslos haben sich die Menschen jener Zeit wohl gefühlt, die sich vollkommen eingebettet und existenziell gebunden sahen in einem komplizierten Geflecht aus Heiligen, Engeln, Teufeln und Dämonen? Der Weg, der ihnen durch ihre Sehnsucht aufgetragen wurde, mußte ihnen als schmaler Grat erscheinen: Links zischten die Flammen des Fegefeuers, rechts lauerte der Teufel, um der armen Seele habhaft zu werden, und über allem wachte ein strenger, strafender Vater.
Schlagbäume säumten den Weg, und die Barrieren konnten erst nach Bezahlung der „Maut“ entfernt werden. Anscheinend waren die „Diener“ dazu berufen, dem Höchsten seinen Teil einzutreiben, legitimiert durch die „Heilige Schrift“, die es leider zu dieser Zeit nur in der lateinischen (griechischen) Sprache gab und die zu erlernen ein Privileg der Machtelite war!
Doch der einfache Mensch sah auch die Schönheit des morgendlichen Sonnenaufganges, sah den Wandel der Jahreszeiten, das Wunder des wachsenden Kornes und nächtens die unfaßbare Unendlichkeit des Weltalls, gesäumt von wundervollen Sternen. Die Gegensätze zwischen einem konstruierten Weltbild und dem unmittelbar erfahrbaren Schöpfungswerk, welches in jedem Augenblick von der Existenz einer gütigen, barmherzigen Gottheit zeugt, standen augenscheinlich im krassen Widerspruch zueinander.
Ergänzend sei noch zu erwähnen, daß Luthers Verdienste für die deutsche Sprache in der Waagschale der Geschichte ebenso schwer wiegen, wie seine Leistungen für die kirchliche Reformation. Durch seine Bibelübersetzung (im Film während der Zeit auf der Wartburg kurz dargestellt) wurde Luther Initiator einer einheitlichen deutschen Sprache. Dabei ging es ihm über das wörtliche Übersetzen hinaus vor allem um die Vermittlung des Inhalts „hinter den Buchstaben“.
Spätestens nach dieser Verfilmung sollten endlich einmal die obligatorischen Unkenrufe über „die Krise des deutschen Films“ verstummen – oder wenigstens ein wenig leiser werden, denn dieser Film spricht in einer eigenen Filmsprache, ist spannend und lehrreich zugleich. Es bedarf keiner Selbstgeißelung mehr, um im internationalen Vergleich bestehen zu können. Selbst für Schüler der Mittelstufe, die von (sinnentleerten) US-amerikanischen Blockbuster-Produktionen „verwöhnt“ sind, könnte der Film im Unterricht eine lehrhafte und anschauliche Bereicherung darstellen.
Filmlänge: 121min, Deutschland 2003
Besetzung: Joseph Fiennes, Alfred Molina, Bruno Ganz, Sir Peter Ustinov
Regie: Eric Till
Buch: Camille Thomasson, Bart Gavigan