Wer viel mit dem Rucksack unterwegs ist, um die Schönheit der Natur zu erleben oder um aus seinen eingefahrenen Gedankengängen herauszukommen, der kennt nicht nur inspirierende Erlebnisse unter blauem Firmament, sondern auch die Schattenseiten manch eines Marsches.
Namentlich jene Torturen, die sich nach einer langen Tagesetappe bei der nahenden Ankunft an den Herbergen dieser Welt einstellen. Nach Stunden der Bewegung spürt man irgendwann unweigerlich jeden einzelnen seiner strapazierten Knochen, die brennenden, aufgeplatzten Blasen am Fuß, weiß von den unangenehm modrigen Ausdünstungen der salzbenetzten Haut. Die Beine wirken bleiern, die Gedanken lallen ein dumpfes, watteummanteltes Mantra: heimwärts! Heimwärts! Die volle Konzentration gilt nun im Tunnelblick dem Weg – Szenen einer archaischen Jagd. Die Müdigkeit und der Schmerz des nächsten Schrittes schüren Zweifel am ursprünglichen Plan. Wozu das Ganze? Wozu die Strapazen? Warum, so fragt sich der Erschöpfte, wandert oder pilgert ein Mensch überhaupt? Bevor die Gedanken das Erbauliche des Weges jedoch versengen, durchfährt so manchen Wanderer plötzlich ein zeitlupeähnlicher Zustand des Einklangs, in der die Welt in wenigen detailverliebten Sekunden das verborgene Antlitz einer unbegreiflichen Herrlichkeit freigibt! Während er nach außen schaut, sieht er zu seinem Erstaunen in sich, und dieses Innen wiederum spiegelt in schwindelerregender Paradoxie die ganze Welt!
Übermannt von der kosmischen Dimension des sich so eröffnenden Raumes, vernimmt der Wandersmann zugleich ein Raunen, die Stimme eines geheimnisvollen, unsichtbaren „Herolds“, der sich im kindlichen Lachen des Baches, im verliebten Lobgedicht des Vogels, im galanten Tanz der Grashalme oder dem leidenschaftlichen Applaudieren eines Regengusses Gehör und Zugang zum Herzen verschafft. Alles ringsum ist nun in harmonischer, sinngeladener Bewegung und erfüllt so einfach seine Berufung als Teil einer gewaltigen Symphonie. Doch nur kurz, dann wird aus dem Loblied wieder Zwitschern, aus dem Lachen des Baches geheimnisumwobenes Rauschen, und Halme biegen sich nur noch mythisch schön. Dennoch hebt jener Anblick sein Innerstes und verändert ihn ein wenig für immer! Gleichgültig, welche Strapaze nun noch bevorstehen mag; mit der Kunde aus der „Heimat“ erblühte das einstige Ödland im Innersten des Wanderers, da das Tor zur Empfindung sich weit der Pracht eines Momentes öffnete, dessen weißer Feiersaum hinaufreichte bis zu schwindelerregenden Höhen. Das Ziel wird endlich wieder greifbar und erblüht in seinem einstigen Werte. In diesem finalen Aufbäumen des Willens erlebt der Wanderer, welch „Wunderkraft“ dem Menschen gegeben ist und immer verbleibt, wenn er trotz Ohnmacht, Leides oder Schwäche fest vertraut und keinen Zweifel hegt an seiner teilhaftigen Verbindung im großen und gütigen Schöpfungsweben! Irgendwann kommt dann die Ankunft: Rucksack herunter, Schuhe abstreifen, Leichtigkeit – Momente eines tiefen Glücks durchziehen den Wanderer in kühlen Wogen! Eine Ahnung von Weisheit überkommt den Wallfahrer bei seiner obligatorischen Tasse Tee am abendlichen Lagerfeuer, wenn er Beobachter seiner Gedanken, seiner Probleme, ja seines Lebens verbleibt. Er stößt lächelnd mit seinen Sorgen an, und beide – die Angst und der Mensch – leben einen kurzen Frieden und lassen voneinander … bis zum Morgengrauen, wo der „Lauf“ des Lebens in anderen Gefilden weitergeht.
Bei aller epischen Dramatik, die das Sinnbild Wanderung in der Retrospektive vor dem geistigen Auge auch auslösen muß – die „humpelige Erklimmung“ der letzten Stufen zur Rezeption einer Herberge erinnert trotz allem eher an den tragikomischen Schlußakt einer Chaplin-Verfilmung! Beides, also Tragik wie Komik, beinhaltet auch der 2007 uraufgeführte Publikumsliebling „Saint Jacques – Pilgern auf Französisch“ der Regisseurin Coline Serreau, die schon mit ihrem Streifen „Drei Männer und ein Baby“ einen Welterfolg verbuchen konnte. Man fühlt sich bei Saint Jacques wegen der waltenden gruppendynamischen Kräfte zart an den schwedischen Streifen „Wie im Himmel“ erinnert, allerdings mit dem großen Unterschied, daß Saint Jacques ein ganz anderes Temperament besitzt und in dem typisch französischen Komödienstil daherkommt, also ein wenig überdreht wirkt und mit chaotischen Dialogen amüsiert. Trotz der oft überakzentuierten Gestik und Mimik im Stile eines Louis de Funès bleibt die an sich sehr einfach gestrickte Geschichte stets sympathisch, bewegend und erstaunlich eindringlich!
Die drei völlig verstrittenen Geschwister Clara (Muriel Robin), Claude (Jean-Pierre Darroussin) und Pierre (Artus de Penguern) erfahren nach dem plötzlichen Ableben ihrer Mutter, daß sie das verbliebene und scheinbar nicht unbeträchtliche Erbe der Eltern laut Testament erst dann antreten können, wenn sie es gemeinsam schaffen, eine zirka 700 Kilometer lange Passage des Jakobsweges bis nach Santiago de Compostela zu beschreiten. Abgesehen von den oben beschriebenen Strapazen, so mag man denken, ein leichtes Unterfangen. Doch schon die erste Nahaufnahme beim Notar und der Blick in die keifenden Gesichter veranlaßt den amüsierten Zuschauer zu der bohrenden Frage, wie es die drei Streithähne auch nur fünf Minuten miteinander aushalten können, ohne sich dabei ständig die Schädel einzuschlagen! Wo sich der wohlhabende und arbeitssüchtige Geschäftsmann Claude und die Lehrerin Clara, eine so zynische wie griesgrämige „Walküre“, längst in verbalen Scharmützeln gegenseitig befeuern, nimmt es der in einer fatalistischen Endlosschleife des Lebens parkende Alkoholiker Pierre eher gelassen, denn ihm geht es bei allem einzig um sich selbst und damit auch nur um das Geld. Schließlich lassen sich die drei zähneknirschend auf die „Bewährungsprobe“ ein, wobei es Guy, dem Führer der Gruppe, obliegt, die korrekte Durchführung des letzten Willens zu überwachen.
Es ist eine illustre Pilgergruppe, welche die Regisseurin in ihrem Film auf die Reise schickt und in die sie die drei streitlustigen Geschwister wie krasse Fremdkörper, quasi als Pilger ohne jegliche Gesinnung, „hineinpfercht“ … doch auch die Perle, so muß Serreau gedacht haben, war einst ein Fremdkörper, den die Muschel am Ende liebevoll mit Schätzen bedachte! Neben der durch eine zurückliegende Chemotherapie gezeichneten Mathilde lernt das Publikum noch die beiden Muslime Saí¯d und dessen Cousin Ramzi sowie die Freundinnen Camille und Elsa kennen. Während die zwei jungen Damen tatsächlich Santiago de Compostela vor Augen haben, zieht es den verliebten Saí¯d lediglich wegen seiner Schulkameradin Camille auf den Pfad. Da der ebenso einfältige wie gutherzige Ramzi gerne an Saí¯ds Seite ist, begibt auch er sich kurzerhand auf den „muslimischen“ Pilgerweg nach „Santiago de Mekka“, wie er es voll sonorer Überzeugung stets falsch von sich gibt!
So wild und aufbrausend die Darsteller auch über das Celluloid rasen, so einfallslos und undurchsichtig es scheinbar auch sein mag, die einzelnen Wanderer als allegorischen Brennspiegel aller möglichen sozialen Probleme zu chiffrieren und in einen viel zu kleinen, 110minütigen Film zu pressen – die Geschichte funktioniert dennoch, und sie tut es wahrscheinlich, weil Coline Serreau neben wundervoll inszenierten Landschaftsaufnahmen dem Streifen noch eine Art natürlichen „Biorhythmus“ hinzufügt! Den Dummheiten, Zwängen und Problemen des Tages folgt fortwährend die weise Symbolsprache des kühlen nächtlichen Traumes, in dem gleichsam Zuschauer wie Träumender ihre Eindrücke sortieren und an ein sinnvolles Gerüst hängen können! Die Regisseurin versteht es dabei meisterhaft, in den Traumsequenzen durch kristallklare Bilder starke Impulse zu erzeugen, und so spart sie in wenigen „Traumsekunden“ langatmige oder ermüdend intellektuelle Filmminuten. Fabelhaft inszeniert ist beispielsweise die lieblose Vater-Sohn-Beziehung des alkoholabhängigen Pierre, der vertrauensvoll alles „schluckt“, was ihm sein strenger Vater darreicht. Beklemmend ehrlich wirken die Alpträume der vom Krebs genesenen, aber glatzköpfigen Mathilde, die sich in einer Gruppe kahlgeschorener KZ-Häftlinge als androgynes Wesen wiederfindet und dabei sehr unter dem fehlenden Attribut ihrer Weiblichkeit leidet. Der Analphabet Ramzi hingegen wird ständig von überdimensionalen und bedrohlichen Buchstaben verfolgt. So naiv Ramzi auch erscheint, seine Träume gehören zu den rührendsten des Films, speziell der geheimnisvolle Abschied von seiner Mutter, deren große Gefühle für ihren Sohn selbst durch die anonyme Silhouette ihrer schwarzen Burka hindurchscheinen! All diese Bilder schmiegt die Regisseurin stets wortlos und monochrom gefärbt in die sanften, weiträumigen Landstriche des Jakobsweges ein, so daß man ganz nebenbei, im Vorübergehen, ein Gefühl für das „Wesen“ des Weges und seine „Sprache“ bekommt. Man mag in der Geschichte vergeblich einen Hauptdarsteller suchen, mal dominiert Clara, dann wieder ein anderer Pilger; der heimliche Star des Streifens ist indes, und das merkt man erst nach dem Film, der Weg!
Das erbauliche Ende ist wie bei einem guten Märchen absehbar, dennoch bleibt Saint Jacques ein inspirierender Film, der vor allem Aufbruchstimmung, Fernweh sowie Hoffnung weckt und dabei so herrlich zu dem bekannten Ausspruch paßt: pilgern ist beten mit den Füßen!