Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß gerade ein Berufener des Britischen Empires, also des elitären Gebildes, dem Gandhi 66 Monate Haft zu verdanken hatte, sich mit Inbrunst und Liebe dem Lebenswerk des 1948 ermordeten großen Inders widmete. In einigen, namentlich marxistisch orientierten Kritiken wird „Lord“ Richard Attenboroughs Film deswegen auch als Werkzeug imperialer Nationen angesehen. Man könnte tatsächlich böse wollen und die dargestellte gewaltfreie Haltung Gandhis als ein einfaches „Du-sollst-dich-nicht-Wehren“ interpretieren und diese „Tugend“ den armen und unterdrückten Menschen in der dritten Welt, den Umweltschützern und Menschenrechtlern unserer Tage als moralischen Keulenschlag verabreichen, während insgeheim die Mächtigen und Ungerechten dieser Erde jede Menschenpflicht ablehnen … Da es aber Richard Attenborough bei seinem Film „nur“ um Gandhis Leben ging, offenbart sich dem Zuschauer eher folgendes: seine Liebe und Bewunderung diesem besonderen Menschen gegenüber; sein Versuch, die Seele Indiens zu umschreiben – an der man nicht vorbeikommt, will man Gandhi verstehen; vor allem aber die Hoffnung, der Nachwelt ein Dokument zu hinterlassen, das exemplarisch von dem Potential des menschlichen Geistes zeugt, wenn er sich in aufbauenden und altruistischen Taten übt und nicht der Hoffnungslosigkeit, sondern einer Sehnsucht Raum gibt, die größer ist als alle Worte, die man sprechen, als alle Gedanken, die man denken kann, eine Sehnsucht, die „gen Himmel nordet“ und die Triebfeder aller Veredelung ist.
Der Regisseur machte mit seinem dreistündigen Filmdrama über das Leben des von einem Hindufanatiker ermordeten Freiheitskämpfers und Mitbegründers Indiens, Mohandas Karamchand Gandhi, der später als Mahatma Gandhi – „die große Seele“ – ins Gedächtnis der Menschheit einging, nicht den Fehler, sich auf das weite Feld der Kolonialpolitik des späten 19. Jahrhunderts zu begeben. Attenborough wollte keinen intellektuellen oder politischen Film, sondern vielmehr einen spirituellen, kontemplativen Streifen drehen, der dem Wesen Gandhis entsprechen sollte. Dieser Film schafft deshalb etwas Besonderes, das jeder von uns nach Augenblicken des Glücks, aber auch Leides kennt – eine Verbundenheit mit dem Wesen der Dinge.
Es ist erfrischend, wie packend ein Kinofilm sein kann, dessen Spannungselemente sich aus stillen und augenscheinlich unspektakulären Elementen bilden. Beispielsweise, wenn Gandhi bei seiner Zugreise in Südafrika das Abteil nicht räumt und auf sein Menschenrecht und die Bruderschaft im Geiste hinweist, worauf der hochkantige Rauswurf aus dem Zug folgt – ein kleines dramatisches Moment, das in anderen Produktionen sicher rücksichtslos zum emotionalen Zwischenschauplatz befördert worden wäre.
Spannend ist der Gleichmut, mit dem bereits der junge Gandhi Repressalien hinnimmt, beeindruckend sind seine Unerschrockenheit und der Mut angesichts drohender Gewalt und der Gefahr, als frisch gebackener Anwalt aus britischen Schulen aus dem gesellschaftlichen Kontext herauszufallen.
Wie symbolisch erscheint es doch, daß auch der Betrachter des Films der Gewalt gegen die „geliebte“ Hauptfigur eine gewaltfreie Einstellung entgegenbringen muß! Als Zuschauer befinden wir uns auf derselben Ebene wie Gandhi und leiden bei jedem Schlag mit – auch unsere innere Haltung steht in gewissem Maße mit jedem Hieb auf dem Prüfstand. Wie wollen wir antworten? Setzen wir der Gewalt Gewalt entgegen? Verharren wir innerlich wie äußerlich, resignieren oder hoffen auf die Besinnung des anderen, machen so aber gleichzeitig ihn zum Despoten und uns zum Sklaven? Oder schaffen wir es, jede Situation mit der friedfertigen, aufbauenden Kraft des Geistes zu bewältigen und das Gesetz von „Auge um Auge“ zu durchbrechen, weil wir – wie Gandhi – erkennen, daß sonst „die ganze Welt erblindet“?
„Wir müssen die Veränderung, die wir uns wünschen, selbst sein!“ Mahatma GandhiDie Verlockungen des Egos, das andere unterwerfen will, sind groß. Wie berauschend ist unmittelbar zelebrierte Macht! Was ist dem verstandesfixierten Ego wertvoller als der Triumph seiner eigenen Gedanken über andere Gedanken, als der Sieg auf dem Schlachtfeld der faßbaren Welt!
Im Dickicht pompöser, selbstsüchtiger Gedanken erscheint der Weg des Geistes leise, unscheinbar und langwierig. Daß dieser Weg dennoch zum Ziel führen kann, hat Gandhis Leben bewiesen. Im Freiheitskampf für seine Heimat zeigte sich, wie ein begnadeter Mensch zur richtigen Zeit auf ein durch Leid „vorbereitetes“ Volk traf, das zudem noch reich an religiösen und spirituellen Traditionen war. Diese Zeit hält Attenborough in seinem Film akribisch fest, bei den unzähligen Verhaftungen Gandhis, dem sogenannten Salzmarsch gegen die Besteuerung des einheimischen Salzes, dem großen Generalstreik, dem Massaker von Amritsar, in dem die Briten wahllos auf Männer, Frauen und Kinder schossen, der sogenannten Spinnradkampagne Gandhis, die sich gegen die Zerstörung der heimischen Industrie durch Stoffe aus englischen Manufakturen richtete (hieraus leitet sich auch das Spinnrad in der Flagge Indiens ab) oder bei Gandhis kompromißloser Forderung nach Unabhängigkeit und Abzug der Kolonialmacht.
Nachdem dieses große Ziel erreicht war, erlebte Gandhi die wohl schwerste Zeit seines Lebens durch die Teilung des Landes in ein hinduistisches Indien und muslimisches Pakistan mit darauf folgenden schrecklichen Greueltaten und beinahe 600.000 Toten. An dieser Stelle zeigt Attenborough in berührenden Bildern, wie tief und einmalig die Beziehung zwischen den Indern und Gandhi war. Angesichts des schrecklichen Mordens verkündete Gandhi, solange zu fasten, bis wieder Frieden zwischen den einzelnen Lagern herrscht – notfalls bis zum Tode. Menschen, die sich wochenlang auf das Entsetzlichste bekämpften, legten daraufhin ihre Waffen nieder und lagen nun tränenüberströmt am Lager des alten Mannes, der nicht mehr fähig gewesen wäre, ein volles Glas mit Wasser zu halten, während sie gelobten, die Unruhen zu beenden, wenn er nur sein Fasten stoppen würde!
Oft sprechen wir von großem geistigen Geschehen, von Offenbarungen wie von einer aus Urzeiten überlieferten Sage und denken insgeheim, daß das doch nur Märchen seien oder sich die himmlische Führung seit jenen Tagen zur Ruhe gesetzt hätte. Der Film über das Leben Gandhis indes ruft in Erinnerung: Es bedarf nur eines Menschen, der wahrhaftig „ist“, um die „Verbindung nach oben“ zu aktivieren und Tausenden den Weg zu weisen!
Fast nur nebenbei bemerkt man, daß der Film auch handwerklich ein Meisterwerk ist. Zwei der insgesamt acht „Oscars“ für den Streifen gingen nicht umsonst an Kamera und Kostüme – wobei gesagt werden muß, daß die Musik des großen Ravi Shankar ebenfalls einen Oscar verdient hätte, setzt sie doch maßgeblich jene Impulse, die Gandhis zeitlose Aussagen und Erkenntnisse auf indische Art und Weise unterstreichen und den großen filmischen Augenblicken den Hauch von der Nähe eines nicht faßbaren Reiches geben.
Der absolute Glücksgriff und wohl einer der wichtigsten Träger dieses Filmes ist der Gandhidarsteller, „Sir“ Ben Kingsley, dessen Vorfahren im übrigen aus derselben Ecke stammen wie Gandhi selbst. Ohne Kingsley, der für seine Darstellung ebenfalls den „Oscar“ als bester Hauptdarsteller erhielt, wäre dieser Film in seiner Tiefe wohl schlecht vorstellbar. Neben der frappierenden Ähnlichkeit mit Gandhi – viele Inder verneigten sich bei den Dreharbeiten vor Kingsley; an der in Delhi gedrehten Beerdigungsprozession wirkten Hunderttausende mit -, ist es in erster Linie die feinfühlige, edle und zugleich unbeugsame Art, mit der Kingsley Gandhi erstehen läßt.
In Attenboroughs Streifen werden der Tod bzw. die Ermordung Gandhis zweimal gezeigt. Einmal sehr hektisch und realistisch zu Beginn des Films, das andere Mal ruhig und gefaßt als Schlußszene, über der nur die Worte Gandhis schwingen: „Wenn ich verzweifelt bin, sage ich mir immer wieder, daß in der Geschichte der Weg der Liebe und Wahrheit immer gesiegt hat. Es mag Tyrannen und auch Mörder gegeben haben, die, so schien es manchmal, unbesiegbar waren. Aber irgendwann wurden sie doch gestürzt.“
Filmlänge: 183 Minuten
Regie und Produktion: Richard Attenborough, 1982
Buch: John Briley
Darsteller: Ben Kingsley, Candice Bergen, Edward Fox, John Gielgud, Trevor Howard, Martin Sheen
Die nun erhältliche DVD-Fassung des Films (Columbia 10135) enthält u. a. ein ausführliches Interview mit Darsteller Ben Kingsley.