Alles an dem sympathischen Pärchen schien doch in Ordnung! Seit man die beiden kannte, sahen sie sich immer so verliebt an, ihre Unterhaltungen waren voll gegenseitigem Respekt, und die Kinder wirkten stets frech, lustig und lebensfroh. Die Welt freute sich an der Familie, erfreute sich an der Verwirklichung eines Ideals, in dem eine Schicksalsgemeinschaft den kräftezehrenden Banalitäten des Alltagsbetriebes stetig reifend trotzt. Die Zweifel an der Beständigkeit der Institution Ehe schienen Lügen gestraft – bis eines Tages folgte, was niemand für möglich gehalten hatte: Affäre, Rosenkrieg, Vormundschaftsstreit, Scheidung … der Weg jeder zweiten Ehe! Was war hinter verschlossenen Türen geschehen? Erlag das Paar denselben Trugbildern, die auch die Abenteuerposse des Kinos einem bequemen Massenpublikum geschickt unterjubelt? Dort „schnappt“ sich der Held kurz vor dem Abspann die netteste Frau des Films, um mit ihr in den Sonnenuntergang – das standbildhafte Klischee einer rosigen Zukunft – zu reiten und sich der wohlverdienten Behaglichkeit hinzugeben – Schnitt, Vorhang, Happy-End … und dann? Was, so fragt man sich, machen die beiden in den darauffolgenden Jahren mit ihrem Glück, wenn ihnen die Sonne am Horizont die schmerzhafte Erkenntnis einbrennt, daß die gemeinsame Lebenszeit, die man „angezettelt“ hatte, erst durch beständige Arbeit und Wachsamkeit in Liebe mündet, daß das Beste also noch erworben sein will?
Wie geht die Geschichte wohl jenseits des Vorhangs weiter? Was, wenn der magische Liebesschwur von einst den Zauber des Neuen nicht mehr konservieren kann? Wenn sich das „Kribbeln im Bauch“ weder als verläßlicher Kompaß noch als sinnstiftendes Lebensgefühl erweist? Langsam dämmert es, daß die „Herausforderung Ehe“ nicht in der äußeren Scheinwelt der Wirkungen zu meistern ist, sondern der Überwindung eigener narzißtischer Hänge im geheimnisvollen „Abenteuerland“ Innenwelt bedarf. Die „kultivierte Demontage“ des eigenen übergroßen Egos erfordert allerdings steten Mut, weil sie eine existentielle Gratwanderung an der Schwelle von tiefen Verlustängsten bleibt – ein Sprung ins Ungewisse, den man, der Angst zum Trotz, dennoch wagen muß, will man im Wandel des Seins füreinander erkennbar bleiben. Nur wer bereit ist, liebgewonnene „Freiheiten“ aufzugeben und sich auf Veränderungen einzulassen, der erfährt im unnachgiebigen Druck der induktiven Kräfte des Bündnisses eine Veredelung und Stärkung des Ichs, wie er sie selbst nie planen könnte …
Es gibt natürlich noch andere, weniger spektakuläre Beziehungsfallen, die nicht in der Scheidung, dafür aber in einem faulen Burgfrieden enden. So wie bei Rudi (Elmar Wepper) und Trudi Angermeier (Hannelore Elsner), den Hauptcharakteren des 2008 mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichneten Streifens „Hanami“ der deutschen Regisseurin und Drehbuchautorin Doris Dörrie. Auch wenn die Ehe der beiden, von außen betrachtet, harmonisch erscheint, so krankt deren Liebe, wie viele andere Zweisamkeiten unserer Zeit, am sterilen, berührungslosen Nebeneinander, am Arrangement einer profitablen Zweckgemeinschaft. Das untrügliche Kennzeichen solch eines pragmatischen Lebensentwurfs ist das bekannte Problem aller institutionalisierten Gemeinschaften: die zwanghafte Wiederholung alter, sicherheitsgenerierender Konzepte, also der ständige Gebrauch derselben Worthülsen oder Gedankengänge. Und das skurrile, aber sympathische Ehepaar aus der bayerischen Provinz greift auf eine Menge solcher Routinen zurück: Während Rudi der Part des wortkargen und etwas grantigen Patriarchen zufällt, verbleibt Trudi die Rolle des guten Hausgeistes, der jegliches eheliche Unterfangen mit sanftmütiger Zuversicht stützt.
Angesichts der Farblosigkeit im Alltag des Ehepaars ist die Überraschung um so größer, als man die bodenständige Frau auf Fotos plötzlich grell geschminkt und grimassenziehend im Kimono erblickt! Trudis große Sehnsucht ist Japan! Besonders der pantomimeartige „Buthotanz“, der verborgene Schichten der Seele schonungslos ans Tageslicht befördert, hat es ihr angetan.
Wenn man sich fragt, wie es wohl zu schaffen wäre, ein in Routinen feststeckendes Ehepaar aus seiner Lethargie zu reißen, dann ist die Antwort des bekennenden Japanfans Dörrie einleuchtend, denn in Hanami jagt die Filmemacherin ihre paralysierten Hauptfiguren erneut mit dem Paukenschlag einer Heimsuchung in die geheimnisumwitterte Fremde, damit dort im Grenzgang endlich andere Saiten ihrer Seelen zum Klingen kommen. Es ist schließlich der „Deus ex machina“ in Form des Todes, der eine zäsurartige Veränderung erzwingt.
Im Fall der Eheleute Angermeier ist Rudi der Todgeweihte, doch nachdem Trudi die Diagnose des Hausarztes in Empfang genommen hat, beschließt sie, ihrem ahnungslosen Mann sein Schicksal zu verheimlichen und ihm den letzten Lebensabschnitt zu versüßen. So tritt Rudi, ohne es zu wissen, seine letzte Reise an, welche ihn und seine Frau ans Meer und in die Großstadt zu den Kindern führt.
Nicht erst seit Hanami gilt Doris Dörrie als feine Beobachterin der alltäglichen Kleinigkeiten, als „Seziererin“ des Moments. Ihre Szenen gehen dabei immer ein Quentchen länger als gewohnt, sind hart an der Grenze zum Profanen. Dafür trägt sie aber in einem Geschehen immer auch jenen entscheidenden Moment der Erkenntnis nach, der in der kurzen Aufmerksamkeitsspanne des modernen Menschen üblicherweise verlorengeht. Es ist ein erfrischender Strauß wahrhaften Lebens, wenn Dörrie den auf der Urlaubsreise befindlichen Rudi in epischer Breite mit einem Fahrkartenautomat zanken läßt oder wenn sie in den höchst authentischen Eltern-Kind-Dialogen die beklemmende Fremdheit und Ferne unzensiert bis zum letzten bitteren Wort weitergibt.
So rührend Trudis Plan auch ist, ihrem Mann die letzten Monate zu versüßen, er geht nicht auf! Denn zur allgemeinen Überraschung ist sie es, die der Tod vorzieht und von Rudi trennt! Eine schmerzende, riesengroße Lücke entsteht in Rudi, der nun uneinholbar einer Vergebung hinterherrennt, da er schlagartig realisiert, was er all die Jahre im Dornröschenschlaf schlummern ließ und nun nicht mehr wachküssen kann. In der ihn verzehrenden Trauer sieht er allerdings noch einen Funken Hoffnung, eine Leuchtspur zurück zu Trudi, zurück zur Liebe – den Japantraum seiner Frau … Wer die Träume des Nächsten verstehen lernt, der ist ihm auch nahe! Instinktiv macht er sich auf den Weg nach Fernost, um Trudis Sehnsucht zu verstehen, zu verwirklichen und ihr endlich Japan zu zeigen, in dem gerade Hanami ansteht, die Zeit der Feste rund um die Kirschblüte!
Die Streifzüge im nächtlichen Tokio stellen den Tiefgang im Leben eines Menschen dar, bei dem bisher alles nach Plan lief. Es ist der schmerzhafte Zusammenbruch alles Betonierten, eine Expedition ins Unbekannte und die verzweifelte Suche nach Zärtlichkeit. Tagsüber „führt“ der in Trudis Kleidern eingehüllte Rudi (!) „seine Frau“ durch Tokio, indem er ab und an wie ein Exhibitionist seinen Mantel öffnet, um ihr so für einen Moment den Blick auf eine Attraktion freizugeben. Während eines Spazierganges lernt er eine junge Buthotänzerin kennen, von der er in den darauffolgenden Tagen nach und nach den Sinn des Tanzes erfährt. Eine tiefe Freundschaft entsteht so zwischen den beiden, und in diesem Rahmen läßt sich Rudi das erste Mal in seinem Leben auf ein Abenteuer ein, in dem er sich dem Tanz hingibt. Es ist ein verblüffendes Schauspiel, den bayerischen Rentner plötzlich in dieser völlig unkonventionellen Rolle zu sehen, und dieser „Paradigmenwechsel“ lebt von der fantastischen schauspielerischen Leistung Elmar Weppers! Wer bei der Besetzung des Streifens an trockene Fernsehkost dachte, wird schon nach der ersten Viertelstunde nicht mehr aus dem Staunen herauskommen! Wepper spielt den gelangweilten, aber durchaus kantigen Rudi genauso überzeugend wie den Rudi, der die expressionistische Gratwanderung wagt … und er schafft die Vereinigung beider Personen zu einer authentischen Einheit – das ist ganz großes Kino!
Der Höhepunkt dieses filigranen Films ist, wer hätte es gedacht, der meisterhafte, weil selbstvergessene Buthotanz Rudis vor dem Berg Fuji, dem Herzen Japans. Szenen, die ans Herz gehen, haben die gefährliche Tendenz, schnell kitschig zu wirken. Käme also ein Zuschauer unmittelbar in dieses emotionale Finale, in der ein Urgestein wie Wepper im Kimono und greller Schminke zur „Japanmusik“ am Fuji tanzt, er würde wahrscheinlich verschreckt das Kino verlassen. Diese Szene ist aber, wenn man Rudis Geschichte kennt, dermaßen klug und herzergreifend, daß man für viele Momente völlig eingenommen und ergriffen sein wird vom Leinwandgeschehen, nach Fassung ringen muß, wenn einen die Theaterbeleuchtung wieder in den Rahmen des eigenen Lebens spannt.
Liebe sollte eine lebenslange Entdeckungsreise an Orte sein, die man schon zu kennen meinte, unter deren Oberfläche jedoch eine noch unvorstellbare Dimension des Seins ruht, von der der einordnende Verstand nichts weiß. Wer es wagt, sich auf diese Reise zu begeben, wird keine Grenzen für die Liebe finden.