Wenn der Vater, vor der heilen Seite des Wagens stehend, seinen Sohn den eben verursachten Unfall beichten hört, so läßt sich der ganze Inhalt seines ihn nun durchfahrenden Glaubens wohl darin umschreiben, die Flanke des sündhaft teuren Autos, die er bislang noch nicht erblicken konnte, möge doch bitte nicht so schlimm beschädigt sein, wie zu vermuten ist!
Glaube heißt immer: von innen nach außen projizieren, das innere Wunschbild als Arbeitshypothese für den noch im Verborgenen liegenden Teil der Welt zugrunde legen und anhand der Antworten des Lebens mögliche Wirkungskräfte und Prinzipien – von außen nach innen – in ein Weltbild fassen, deuten lernen. Glaube ist, so betrachtet, kein Primat der Religion, sondern Teil eines alltäglichen, erkenntnistheoretischen Kreislaufs, so banal und doch auch so lebensnotwendig wie das Atmen, sorgt doch der Erklärungsversuch, wie die bislang dunkle Seite der Dinge beschaffen sein könnte und wie diese mit dem Rest der Welt zusammenhängt, für rasche Orientierung und Handlungsfähigkeit. Was aber stets in Vergessenheit gerät: Glaubensschemata schaffen nur für eine bestimmte Übergangszeit Ordnung, Sinn und Sicherheit; und: jedes Glaubenspostulat sollte für den Gläubigen mit der absoluten Pflicht einhergehen, sich innerlich zu regen und das bisher mit Wunschvermutungen behaftete Bild in ständigem Diskurs mit dem Leben prüfend zu hinterfragen, um so das Abbild im Geiste in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozeß immer weiter zu schärfen!
Geht es um die Wahrheit, so erschließt sich der Mensch mit dem Vehikel namens Glauben zwar seine persönliche Zukunft, er wird sich in diesen Entwicklungsebenen jedoch immer nur so lange wohlfühlen können, bis sein Weltbild durch den Einspruch des Lebens schmerzhaft Grenzen erfährt und neue Sichtweisen nötig werden. Entweder man wagt nun also den Schritt hinaus aus der Komfortzone schematischer Leitbilder und begreift das beim Loslassen alter Glaubensgewohnheiten stets aufkommende Unbehagen als noch rohe, ungebändigte Kraft, die man für weitere Bewußtwerdungsprozesse nutzen kann, oder … man hält weiterhin krampfhaft an seinen persönlichen oder, wie in allen Religionen und Institutionen, durch Massenkonsens kultivierten Vorstellungen fest. Dabei verfehlt man aber zwangsläufig das belebende Ziel einer jeden Religion, eines jeden wissenschaftlichen Erkenntnisdranges: die stufenweise Annäherung an die Wahrheit durch ein alle Gegensätze überwindendes Erleben von Religio, von Synthese, durch jene tiefgreifende Erfahrung, in der Glaubensfragmente, mit eigenem Erleben verknüpft, eine neue Einheit erfahren und sich das Begriffsvermögen des Menschen in einem prägenden Glücksmoment erweitert …
Es ist das Jahr 391 nach Christus. Die Mathematikerin, Astronomin und Philosophin Hypatia (Rachel Weisz) lehrt, als eine der herausragenden Köpfe ihrer Zeit, an der bedeutendsten Bildungseinrichtung der antiken Welt, dem Museion von Alexandria. So beeindruckend das Bild einer von Studenten umringten und große kosmologische Fragen erörternden Dozentin in der ersten Einstellung des 2010 erschienenen Historiendramas „Agora – Die Säulen des Himmels“ auch anmuten mag, die gesellschaftlichen Konstellationen, in der sich die schöne Gelehrte befindet, sind hochbrisant! Die Welt jenseits der Bildungseinrichtung, jenseits der berühmten Bibliothek, befindet sich im Umbruch, da das seit einem Jahrzehnt im Römischen Reich zur Staatsreligion erhobene Christentum sich nach und nach in den entlegenen Ecken des Imperiums auf meist aggressive Weise in alte, gewachsene Gesellschaftsstrukturen hineindrängt. Trotz dieses äußeren Drucks leben die Anhänger der aus der griechisch-ägyptischen Mischkultur hervorgegangenen Vielgötterei und des Judentums, das in jener Metropole – begünstigt durch altes Selbstverwaltungsrecht – zum bedeutendsten jüdischen Zentrum seiner Zeit avanciert, nach wie vor in einer stabilen Koexistenz … ein Miteinander, das die in der Stadt patrouillierende, radikal christliche Bruderschaft der Parabolani nicht mehr dulden kann.
Aufgrund der Armenspeisungen der Christen verwundert es nicht, daß der militante Männerorden sich größtenteils aus ungebildeten, prekären Schichten der Metropole rekrutiert und dadurch mittlerweile zu einem wahren Armenheer anwachsen konnte, das, frisch bekehrt und hochmotiviert, für die Verbreitung des Evangeliums zum Einsatz kommt! So entwickeln sich aus verbalen Scharmützeln zunehmend handfeste, mit Knüppeln und Steinen ausgetragene Auseinandersetzungen, die sich als sichtbare Indikatoren des städtischen Friedens größtenteils auf der Agora, dem kulturellen Mittelpunkt der Stadt, entzünden. Nach einer Beleidigung der am Pantheon der Polytheisten prangenden Hauptgottheiten durch die Christen eskaliert die Lage schließlich. Wellen aus Angriff und Vergeltung, Massakern und Pogromen überziehen Alexandria, ein Flächenbrand, der bald auf alle religiösen Gruppen übergreift und dabei von den fanatischen Parabolani ständig aufs neue angefacht wird.
Während zwischen Polytheisten, Juden und Christen ein blutiger Krieg um die Deutungshoheit göttlichen Willens tobt, verbirgt sich in den spannenden Vorlesungen Hypatias nicht minder Sprengstoff! Im Mittelpunkt des Universums, so die Lehre des Ptolemäus, stehe die Erde, um sie herum kreisen in komplizierten Bahnen die bekannten Planeten, einer von ihnen die Sonne. Wieso, entgegnet nun während des Unterrichts Orestes (Oscar Isaac), die so dozierende Hypatia unterbrechend, neige die immer der Einfachheit zustrebende Natur bei den Planetenbahnen plötzlich zu solch einer komplexen, unvollkommenen Lösung? Für den erzürnten Mitschüler Synesios (Rupert Evans) ist alleine die Frage schon eine Beleidigung des Schöpfers, der schiere Wortlaut löst im Studenten ein Denkverbot aus, das ihn bezüglich der eigentlich gar nicht ketzerischen Frage blind werden läßt! Die weise Hypatia schlichtet den Streit der beiden Schüler mit einem Satz aus der Euklidschen Geometrie, der während des tobenden Bürgerkrieges zu einem alle Fäden dieser vielschichtigen Geschichte zusammenführenden Leitthema, ähnlich Lessings Ringparabel, wird: Wenn zwei Dinge einem dritten gleich sind, dann sind sie auch untereinander gleich! Es eint uns bei besonnenem Blick immer mehr, als uns trennt!
Dennoch: Orestes‘ Frage ist berechtigt. Wieso diese unsinnigen, zirkusreifen Bahnen? Drängt der Mensch auf der Suche nach einer Erklärung der Natur ein Verhalten auf, das wenig mit der Realität, dafür aber viel mit seinem eigenen Wunschbild zu tun hat, beugt er also die Realität für seine geliebte Annahme? Und wer wagt es schließlich, dieses Weltbild zu hinterfragen und dafür womöglich auf dem Feuer oder am Kreuz zu enden? Der Tod, so viel weiß der Zuschauer bereits, schreckt Hypatia nicht, und so trifft sie im Verlauf ihrer Suche bald auf das heliozentrische Weltbild des Aristarchos, bei dem es die Erde sein soll, die sich um die Sonne dreht – eine aberwitzige, gefährliche These für die damalige Zeit …
Tatsächlich greift Regisseur Alejandro Amenábar mit der Figur der Hypatia von Alexandria, mit den an die Taliban unserer Zeit erinnernden Parabolani, mit Synesios von Kyrene sowie dem machthungrigen Patriarchen Kyrill historische Persönlichkeiten auf, und auch deshalb ahnt der Zuschauer, lange bevor die prachtvolle Bibliothek in einer schaurig schönen Zeitlupensequenz der Zerstörung eines wütenden Mobs anheimfällt, schon dumpf: Die Geschichte geht nicht gut aus. Wo Männern, des Deckmantels ihres Glaubens beraubt, die Unausgewogenheit ihrer so radikal vorangetriebenen Wunschvorstellungen vor Augen geführt wird, wo sich mangelnde Gottesliebe schmerzhaft offenbart und Scham vor der eigenen geistigen Armut aufkommt, wo die innere Stimme folglich zu Einkehr und Demut mahnt, dort kann es in diesen Kreisen zu einer paradoxen Kompensation kommen: zu einem eigentümlichen, unbarmherzigen Frauen- oder auch Fremdenhaß, zu Mordlust und in Mannesrituale verpackte Todessehnsucht …
Hypatias Wirken als Aufklärerin, für die jedweder Glaube bis zu dessen Verklärung durch die Vernunft lediglich die zur Achtung mahnende Präambel einer echten inneren Überzeugung ist, inszeniert Amenábar, filmisch packend, im Kampf mit dem zum wissenschaftlichen Glauben verkommenen geozentrischen Weltbild. Indem Hypatia ihre Beobachtung streng an die kosmologische Maxime „Man darf Gott nicht vorschreiben, was er tun und lassen soll“ koppelt, entdeckt sie nicht nur die viel elegantere und einfachere Lösung, daß in Wirklichkeit die Erde ein Trabant der Sonne ist, sie enttarnt dadurch ungewollt auch den in das damalige Weltbild eingebetteten und zutiefst unchristlichen Wunschglauben, der Mensch sei das Zentrum der Schöpfung, um das sich selbst Gott zu drehen habe! Ohne es zu wissen, wird sie so zum Stachel im Fleisch aller religiösen Fanatiker!
Hypatia stirbt letztlich, weil ihre Gedanken zu einflußreich waren, weil sie eine Frau war und weil sie sich nicht dem holzschnittartigen Weltbild der damaligen Christen unterwerfen wollte. Die Forscherin wußte jedoch: Wirksamer als jedes Schwert und jeder dogmatische Erlaß ist die Macht des Wortes, gespeist durch die Gedanken einer von Vernunft inspirierten Seele.
Das Ziel des Glaubens muß stets die Sehnsucht nach Wahrheit bleiben, gefaßt in einen gesellschaftlichen Rahmen aus Respekt und Nächstenliebe, der – egal, welcher Glaubensschule man angehört – Freiraum zum Staunen, Zweifeln und ehrlichen Nachfragen bietet.