Das Thema „Fremdenfeindlichkeit“ ist derzeit wieder einmal in aller Munde. Da werden Asylantenwohnheime angezündet, nationalistische Parolen geschwungen und vor der großen Gefahr von außen gewarnt. Gleichzeitig war aber auch die Solidarität noch niemals zu so groß wie heute. Tausende Deutsche engagieren sich ehrenamtlich in der Betreuung von Flüchtlingsfamilien, geben Sprachkurse und glauben an ein multikulturelles Deutschland. Der NATURSCHECK-Mitbegründer Mehmet Yesilgöz hat schon früh Erfahrungen gemacht mit den Themen „Immigration und Integration“.
Lieber Mehmet, als wir uns vor über 20 Jahren kennengelernt haben, hatte gerade ein Artikel von Dir für Aufmerksamkeit gesorgt. Er erschien in der FAZ und behandelte die Doppelmoral hierzulande. Du wurdest sogar zu TV-Diskussionen eingeladen. Was hat Dich damals veranlaßt, den Artikel zu schreiben, und worum ging es dabei?
MEHMET YESILGÖZ: Der Artikel entstand nach meinem Abitur, in den Jahren kurz nach dem Mauerfall. Du wirst Dich an die aufgeheizte Stimmung erinnern, die damals herrschte, an das erneute Aufflammen rechten Gedankenguts, an die Brandanschläge z.B. auf das Flüchtlingsheim in Hoyerswerda durch einen braunen Mob. Wie so viele, habe auch ich die Ereignisse seinerzeit im Fernsehen beobachtet, und es machte mich fassungslos, daß dieser sinnlose ideologische Haß in einer prosperierenden Gesellschaft wieder derart Fuß fassen konnte.
Zu meinem persönlichen Schlüsselmoment in dieser Zeit wurde aber erst eine RTL-Aktion, in der sich Promis und Politiker in kurzen Fernsehspots gegen rechte Gewalt positionierten. Ich fand es natürlich gut, daß es Gegenimpulse gab, keine Frage, aber die Art und Weise, wie eine in diesem Bereich doch erstaunlich unbewußte Gesellschaft immer wieder mit denselben Mitteln am Eigentlichen vorbeisah, wühlte mich auf. Ich dachte mir: Bewußtsein und in Folge echter Wandel kann doch nicht entstehen, wenn man ständig nur polarisiert und plakativ auf irgendwelche Sündenböcke zeigt.
In meinem Artikel setzte ich deshalb, und das war wohl auch der Grund für das Medienecho, auf einen sachlichen Blick in beide Richtungen des gesellschaftlichen Spektrums. Da war dann halt ein „Ausländer“, der das „Symptom“ Nazi in seiner Ursachensuche nicht ausklammerte und wissen wollte, wieso Menschen in Friedenszeiten derart radikal werden können. Andererseits ist ein in Haß wütender „Nazi-Mensch“, ob wir wollen oder nicht, ein Teil unserer gemeinsamen Wirklichkeit und somit ein ziemlich klarer Indikator für ein gesamtgesellschaftliches Problem. Mit diesem systemischen Ansatz wollte ich verdeutlichen, daß eigentlich viel mehr Menschen an derlei Übergriffen beteiligt sind, als man gemeinhin annehmen möchte; die innere Haltung der Einzelmenschen und die Qualität der Gedanken sind sogar maßgeblich für den Ausgang potentieller Taten! Mitverantwortung für Diskriminierung und Gewalt, so mein Fazit damals, tragen also nicht nur diejenigen, die skrupellos draufschlagen, sondern auch all jene kreuzbraven Mitbürger, die gedanklich nicht in Opposition zu ihren haßerfüllten, Gewalt legitimierenden Vorstellungen gehen!
Du bist in Deutschland geboren und hast seit vielen Jahren einen deutschen Paß. Fühlst Du Dich als Deutscher? Oder als Außenseiter?
MEHMET YESILGÖZ: Ich finde den Begriff des Weltbürgers beeindruckend, wenngleich sich die Antwort im Feuilleton bestimmt gut macht, auf der Straße aber zu abgehoben klingt. Streng genommen bin ich deutscher Staatsbürger mit türkischen Wurzeln, wobei mich das gefühlsmäßig nicht sehr anspricht. Deutsch-Türke klingt fast schon wie ein Schimpfwort. Egal, wie man mich aber letztlich tituliert, mir steht die Andersartigkeit hierzulande ins Gesicht geschrieben, ich bin also schon irgendwie ein Außenseiter. Diese Tatsache ist bei mir allerdings nicht negativ belegt, da ich mich in meiner Sondersituation als lebende „Denkanregung“ wohlfühle. Mir ist schnell klar geworden, daß ich viele Mitmenschen durch meine Eigenart unbewußt zur Identitätsfrage anrege, und zwar weil ich oftmals unterschwellig ein Gefühlsbad an Vertrautheit und Fremdheit erzeuge! Meistens ergibt sich daraus ein fruchtbarer Austausch, ab und an tiefe Freundschaft, und manchmal wird man halt auch mit stereotypen Vorurteilen konfrontiert, was mich aber nicht weiter stört. Wenn ein Mensch nur den Ausländer in mir sehen möchte, dann projiziert er wahrscheinlich eher sein In-sich-Fremdsein auf mich.
Ich konnte der hierzulande hochstilisierten „nationalen“ Gretchenfrage aber eigentlich nie etwas abgewinnen, weil sie Wertigkeiten schafft, die ich persönlich nicht wollte. Ich wollte nie nur deutsch oder türkisch sein und irgendwelchen traditionellen Vorstellungen entsprechen, sondern im Einfluß beider Kulturen meine Erkenntnisse machen. Außerdem fühle ich mich reich beschenkt mit den Bildwelten und Geschichten zweier Kulturen, wieso also aussieben? In unserem Alltag ist es doch auch gang und gebe, diverse, teilweise sogar widersprüchliche Rollen zu einer Identität zu verbinden. Ein Mann kann Vater, Bruder, Arzt, Kunstliebhaber usw. sein, und trotz dieser vielen Ichs erscheint er uns – ein gesundes Selbstwertgefühl vorausgesetzt – als konsistente Persönlichkeit. Für viele wirkt jedoch eine eigene weltanschauliche Identität jenseits religiöser und familiärer Traditionen oder nationalstaatlicher Definitionen befremdlich, ja angsteinflößend. Ich denke aber, daß gerade in diesen Bereichen eine rein institutionalisierte Identität die für das Individuum maßgebliche Eigenerfahrung verdrängen kann und der Mensch mit der Zeit – das Problem aller Ideologien – zum Gast im eigenen Leben wird. Der von mir bevorzugte Ansatz des „selbstbewußten Außenseiters“ ist zwar mit Phasen der Unsicherheit und des Zweifels verbunden, dafür führt mich dieser spirituelle Integrationsweg jeden Tag aufs Neue zum Verständnis kulturübergreifender Werte!
Was hat Dich letztlich dazu bewogen, Deine familiengeschichtliche Nationalität zu wechseln?
MEHMET YESILGÖZ: Das war eine bewußte Entscheidung, die, so würde ich das heute ausdrücken, wohl mit der bedingungslosen Hingabe an das Hiersein zu tun hatte. Ich glaube, entscheiden muß man sich in dieser „Multikulti-Situation“ lediglich, wo man wirken, bzw. wo man sich ohne Wenn und Aber einbringen möchte! In meinem Fall war es das Land, in dem ich Freunde und Freude hatte und Erleben mich satt machte, sprich, Deutschland. Dieser Entscheidung gehen viele, vor allem muslimische Migranten leider heute noch aus dem Weg, und deshalb leben sie oftmals in einem kurios ausstaffierten Transitraum zwischen den Welten und kommen nie dazu, sich selbst und ihre Talente wirklich zu entdecken. Dahinter steckt meiner Erfahrung nach die große Angst, der elterlichen Tradition gegenüber nicht mehr loyal genug zu sein und letztlich auch Gott zu verraten. So scheuen viele den für Wachstum notwendigen Bruch mit Autoritäten, der aber auch Identität bringen würde. Zudem entwertet die Haltung, nicht hier, sondern immer viel lieber in der vermeintlichen Heimat sein zu wollen, auf die Dauer prinzipiell den Ort, an dem man den Großteil seines Lebens wirkt …
Vor diesem Hintergrund ergibt es für mich keinen Sinn, einen bestimmten irdischen Ort als Heimat zu stilisieren. Der Platz an sich ist bedeutungslos, wenn man innerlich verschlossen bleibt und in einer gegenwartsfeindlichen Haltung verharrt. Andererseits ist ein aufgeschlossener und der Welt liebevoll zugeneigter Mensch doch überall zuhause! Heimat ist für mich heute ein Begriff fernab materieller Verfügbarkeit. Ich finde, er ist mehr als geistiger Orientierungspunkt anzusehen, der die Sehnsucht beheimatet, wahrhaft Mensch zu sein und in dieser Geisteshaltung entsprechend den Raum und das sich darin befindliche Leben zu veredeln.
Es gibt ja nicht nur kulturell bedingte und angeborene Außenseiterrollen – auch innerhalb der Gesellschaft werden viele irgendwann zu Außenseitern. Seit einigen Jahren gehst Du jeden Freitagabend in den Heilbronner „Knast“ und diskutierst mit Gefangenen. Wie kam es zu dieser interessanten „Nebentätigkeit“? Was hat Dich bewogen, diesen Kontakt zu suchen?
MEHMET YESILGÖZ: Bei einem Kaffee erzählte mir der Heilbronner Gastronom Hans-Peter Hagen vor einigen Jahren, daß er der einzige Heilbronner sei, der Lebenslänglich hätte. Natürlich verstand ich zunächst nicht, was er meinte, bis er schließlich von seiner vor 43 Jahren gegründeten „Bürgerinitiative Strafvollzug“ und seinem wöchentlichen Gang in die JVA Heilbronn berichtete. Ich wurde hellhörig und fragte ihn spontan, ob ich mir das einmal ansehen könnte. Das war vor ca. fünf Jahren, und seither bin ich fast jeden Freitag mit drei liebenswerten Kollegen im Knast.
Für mich wirft die Gefängnis-Metapher grundlegende Fragen des Seins auf, die mich faszinieren. Allein der Gang ins Gebäude hat schon etwas von einem Rückzug ins Kloster. Man ist in den zweieinhalb Stunden nicht verfügbar, abgeschottet von der Außenwelt, eingebettet in eine Art überdimensionalen Kreuzgang, in dem die Gedanken um das Thema Schuld und Sühne oder innere und äußere Freiheit kreisen. Innere Freiheit sollte – so das Ideal – unabhängig von äußeren Bedingungen sein. Gesellschaftlich erleben wir durch unser kapitalistisches Wertesystem jedoch, wie unfrei auch wir „Freien“ doch sind. Andererseits kann ein Gefangener, der seine Situation annimmt, ein hohes Maß an innerer Freiheit erlangen.
Wir erleben in unseren Runden meist Menschen, denen klar ist, daß sie einen Fehler gemacht haben … sie wissen nur nicht, wie sie ihn wiedergutmachen können. Das passive Absitzen einer Strafe befreit die Täter nicht von ihrem Joch, noch führt es zu echter Erkenntnis. Der Grund, wieso diese Personen uns Woche für Woche Tee und Kaffee servieren, ja sogar Kuchen backen und dabei ihre Gedanken und Argumente zur Disposition stellen, liegt sicher in der intuitiven Einsicht, daß nur das In-Worte-kleiden des inneren Zustands die Last verstehen läßt, die viele schon ein Leben lang dumpf mit sich herumtragen. Die Anstrengung der Häftlinge, sich im geschützten Kreis von ihrer besten Seite zu zeigen, ist dabei der Versuch, sich selbst einmal in einer guten, versöhnten Version ihrer selbst zu erleben. Wenn Du so willst, bekomme ich jeden Freitag ein Filetstück an Menschlichkeit serviert!
Mir ist natürlich bewußt, daß es noch die Seite der Opfer gibt, und mir ist auch klar, daß die Realität jenseits dieses Rahmens anders aussieht. Ich gehe aber auch nicht mit dem Anspruch ins Gefängnis, jemanden retten zu wollen! Mir liegt viel eher an einem ehrlichen Geben und Nehmen in Form eines kultivierten Miteinanders und, wenn möglich, eines engagierten Gesprächs. Das Ringen um Worte reflektiert die eigene Denkweise und hilft dabei, sich selbst besser zu verstehen. Letztlich ist also das „geheime“ therapeutische Element die freie Rede – durch sie wird der Sprecher zum Übersetzer seiner eigenen Innenwelt. Hinter der sprachlichen Unbeholfenheit vieler Migranten steckt nicht umsonst eine instinktive Blockadehaltung, die vor allzu viel Transformation schützen soll!
Wie man sehen kann, ist es eine Illusion zu glauben, das Gefängnis sei voll mit Menschen, die von Natur aus schlecht sind, und daß die „Guten“ sich nur außerhalb der Mauern befänden. Zu dieser Hybris gibt es überhaupt keinen Grund! Ich denke sogar, in so mancher Situation steht fast jeder einmal in seiner Verblendung haarscharf vor einem Knastgang!
Lieber Mehmet, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Das Interview führte mein Freund und Redaktionskollege Michael Hoppe