Kinderparadies – unter dieser eigenartigen Wortkonstruktion finden sich landauf, landab „Spielhallen“, in denen Kinder auf Hüpfburgen, Trampolinen, auf Fahrrädern, Rollern und anderem Spielgerät ihr potentielles „ADHS-Gen“ ausleben können. Ich weiß nicht wie, doch selbst meine kleine vierjährige Nichte wußte eines Tages von solch einem Spielplatz in unserer Nähe, und da sie beim Aussprechen des Wortes „Simsalabim“ – so heißt die hiesige Spielarena – ständig herzerweichende Glitzeraugen bekam, blieb dem Onkel letztlich der Weg in diese Art Paradies nicht erspart.
Schon der Lärmpegel beim Eintritt in die umfunktionierte Tennishalle scheint das Konzept zu bestätigen. Überall wuseln kreischende Kinder herum, während Erwachsenen von den im Spielrausch befindlichen Knirpsen ganz offensichtlich nur eine Statistenrolle zugestanden wird. Die Regeln leuchten schnell ein: Die Eltern schrauben eine Weile ihre pädagogischen Ansprüche auf ein rudimentäres Maß herunter, während die Kinder beim Spielen Vollgas geben dürfen, so lange, bis Muttis oder Papis Sprachmelodie unverkennbar den Nachhauseweg einläutet. Im Gegenzug für diese Nettigkeit würde es die Eltern natürlich sehr freuen, wenn die Racker später beim ersten Matratzenkontakt in einen mindestens acht Stunden anhaltenden Tiefschlaf fallen würden …
Während ich bei einer kühlen Apfelschorle zusehe, wie meine Nichte sich ein noch ungenutzt in der Gegend liegendes Dreirad zähmt und damit in den Weiten der Halle verschwindet, fällt mir eine Mutter auf, die ein wenig verloren vor einer haushohen Kletterburg steht und ihrem Kind beim Tollen zusieht. Dieses Bollwerk aus Seilen, Stahlträgern, Plastikwänden und Schaumstoffmatten ist derart konsequent für die herumtobenden Pennäler konzipiert, daß ein Erwachsener die Ecken und Winkel im Inneren dieser martialischen Kinderphantasie nur mit allergrößter Mühe erreichen könnte. Als die Frau zum wiederholten Male auf ihre Uhr blickt, spüre ich selbst aus der Ferne die Unruhe, die sie nun plötzlich umgibt. Auch der Junge erkennt beim Kontrollblick schnell die Zeichen in Mamas Miene, und tatsächlich ruft die Frau einige Momente später das Kind für den Nachhauseweg zu sich.
Die Reaktion des Kleinen nun ist interessant, denn anstatt den Worten gleich Folge zu leisten, hält er kurz mit starrem Blicke inne, um sich eine Impulskaskade später mit einer höchst individuellen Regung zurückzumelden. Ganz offensichtlich denkt der Kleine nicht daran, dieses spannende Abenteuer zu beenden und artig an der Hand der Mutter nach Hause zu waten! Er weiß instinktiv, daß hier in der Trutzburg der beste Ort ist, um dieses gerade in ihm aufflammende Gefühl – das er später „Lebensfreude“ nennen wird – auszukosten und daß es schon einer gewaltigen Intervention bedarf, um ihn aus diesem seinem „Himmelreich“ herauszubekommen. In Folge dieser Minirebellion und ihrer Terminnot gerät die Mutter nun weiter unter Druck, und deshalb versucht sie ihren Sohn im zarten Befehlston zur Raison zu bringen. Doch alle Appelle prallen wirkungslos an ihm ab. In einem Akt der Verzweiflung will die „Artfremde“ des Knirpes nun gar in dessen höchsteigenem Territorium habhaft werden, untermauert durch ihr Schneckentempo im Labyrinth jedoch nur, daß sie dem Jungen in der Kletterarena nichts entgegenzusetzen hat. Der „Burgherr“ indes genießt in seinen „lichten Höhen“ die Aussicht …
Als sich die Mutter endlich aus dem Stangengewirr herausgepellt hat, wird es ihr zu bunt, und mit den magischen Worten: „Du bewegst dich jetzt sofort zu mir herunter, sonst kommen wir dieses Jahr nicht mehr hierher!“ schafft sie es am Ende tatsächlich, eine Vorstellung in ihren Sohn zu pflanzen, durch die sich die Situation in der Kletterburg drastisch zu ihren Gunsten wendet!
Simsalabim!
Wie im Bann eines Zauberstrahls verläßt der Junge bald die Gegenwart, wie sie sich bisher um ihn herum pulsierend formte. Die Magie des Arguments läßt den abgedankten Herrn dieser Welt wie ferngesteuert von seinem Wehrturm herunterklettern; die Vorstellung, den wundervollen Spielplatz in den nächsten Monaten nicht mehr besuchen zu können, wiegt am Ende doch zu schwer! Die aufflammende Verlustangst läßt die Gegenwart verblassen; was bleibt, ist die Sehnsucht nach einem rätselhaften Ort in der Zukunft, der die Freude, die ihm im Spiel zuteil wurde, in sich verwahrt …
Natürlich meinte diese Mutter es gut mit ihrem Sprößling, ihr „Zauberargument“ war nötig, Kinder müssen sich an bestimmte Regeln halten, und vermutlich wird dieser selbstbewußte Junge mit 30 auch nicht auf der Behandlungscouch eines Psychologen liegen und schweißgebadet von unerreichbaren Türmen phantasieren, die im ständig selben Traum auf ihn einstürzen!
Dennoch gibt mir diese Episode zu denken – und zwar nicht, weil sich die Mutter irgendwie falsch verhalten hätte, sondern weil die Geschichte einem oft genutzten Plot entnommen scheint, der besonders auch in religiösen Gefilden die Grundlage des menschlichen Miteinanders festzementiert. Es gibt auch hier zahlreiche „Zauberargumente“, die einen bestimmten Weg markieren. Simsalabim – wenn du meinen Worten folgst, darfst du später etwas Schönes erleben!
Verspricht nicht auch jede Religion bei Einhaltung eines Regelwerks den Glanz künftigen (jenseitigen) Goldes? Erzeugen die Worte der Gläubigen, Kleriker oder Würdenträger nicht oft jene verängstigende und einschüchternde Vorstellung, ein parteiischer Gott würde der armen Seele den Eintritt in sein jenseitiges Reich verwehren, wenn sie bestimmte Regeln nicht achtet? Verwahrt nicht auch im Bereich der Konfession ein wie auch immer geartetes Paradies alle Freuden in sich, wobei die Gläubigen mahnend daran erinnert werden, daß man sich hier im Diesseits lediglich am Ort der Prüfungen befindet?
Sicher haben spirituelle Wegweisungen mitunter großen Wert. Wenn aber die kleinen und großen Missionare, Moralprediger und Erzieher unserer Zeit die Einheit nicht mehr nachempfinden können, die der Mensch „hoch oben“ in seiner persönlichen Kletterarena erlebt, dann verschließt ihr starres Regelwerk den Raum des Glücks.
Simsalabim – alle jene Hinweise und Phrasen, die auf eine unsichtbare Zukunft verweisen und deren prägende Kraft im Ergriffensein und der Begeisterung von hohen ethischen Werten und Menschheitszielen wurzelt, können die Gegenwart verändern, aber dabei auch frustrieren, deprimieren, radikalisieren. „Fanatismus wurzelt“, schrieb der Psychologe G. Hole, „seinem Wesen nach geradezu elementar in den hellen, ideell-ausgerichteten Bereichen der menschlichen Psyche. Oder vereinfacht ausgedrückt: Fanatismus ist die Gefahr ,von oben\‘, nicht die Gefahr ,von unten\‘.“
Unsere ewige Sehnsucht nach dem Idealzustand kann sich nur innerhalb des Lebensflusses erfüllen. Manchmal sind Anstöße nötig, damit wir uns ihm anvertrauen – aber oft ist Vorsicht geboten, denn das magische „Simsalabim-Argument“ kann Menschen auch in willfährige, willenlose Marionetten verwandeln.