Brother Louie, Louie, Louie …“ In einem scheinen sich die Menschen auf dem Parkplatz einig zu sein: Musik muß „krachen“! Die Melodie ist bei diesem stampfenden Getöse, der das Mark wie eine Polonaise in Richtung Stammhirn durchzieht, sekundär, Hauptsache, die Bässe wummern in der Magengrube … damit man das Leben spürt.
Die Halbstarken auf dem Parkplatz haben, wie so oft in der Woche, zur „Leistungsschau“ geladen. An einem der auffälligsten Wagen ist der Kofferraum sperrangelweit geöffnet, und eine buntbekleidete Menschenmenge betrachtet fachkundig die dort eingearbeiteten zitternden Membranen mit ihren aggressivroten Emblemen, aus denen ein Lautstärkepegel infernalischen Ausmaßes hervorbricht. Von der Ferne erinnert die Szene an eine fachsimpelnde Schar von Jung-Dentisten, die gerade in ein besonders marodes Gebiß starren.
Eine andere Traube umringt die angewinkelte Motorhaube des grotesk tiefergelegten und mit zahlreichen Spoilern ausstaffierten Gefährtes, das unter ehrfürchtigem Fingerzeig ein „aufgemotztes“ und verchromtes PS-Monster in sich zu beherbergen scheint, eine Bestie, die rastlos vibrierend im Käfig umherzieht und bei jedem Tritt gegen das Gaspedal bedrohlich in die johlende Menge faucht. In den schießschartenartigen Blicken der Umstehenden liegt eine scheue Schutzhaltung, die aus halbgeöffneten Lidern mißtrauisch das Geschehen zu observieren scheint und die Gesichter trotz der blühenden Jugend anonym, fast maskenhaft wirken läßt. Die Kleidung entspricht einem Dreßcode, der aus dem Initiationsritus einer geheimen Loge stammen könnte: Hosenbund kurz oberhalb des Knies, linkes Hosenbein hochgefaltet und Baseballkappen verkehrt herum auf dem Kopf. „Cool bleiben“ heißt die Überlebensstrategie, die Schablone für das Durchkommen; nur nicht verletzen lassen, dicht machen … Ob den Jugendlichen wohl irgendwann jemand sagen wird, daß nicht alles, was die Seele berührt, Schaden bringt?
Auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes ballt sich ein anderer, schwarzgetünchter Menschenschlag, teils auf dem Boden sitzend, teils am Geländer lehnend, zusammen. Glitzernde Metallkugeln, eingestochen an schmerzhaften Stellen, geißeln als Ausdruck einer merkwürdigen Lebenslust den Körper. Vereinzelt ragen bizarr rasiert, grünblau-, violett- oder rotgefärbte Haare in mein Blickfeld. Extrovertierte Schwermut, schwarzgekleidet, barock im Büßerhemd. Ungestüme Jugend sprießt farnartig in bunten Farben aus grauen Nischen; ziellos, zügellos, zornig, weil in einer lieblosen Welt all die Seelenpracht ungesehen blieb …
Es ist Samstagabend auf dem Gelände irgendeines McDonald’s in Deutschland. Es könnte natürlich auch Italien, England oder Spanien sein, denn das Erfolgsrezept der Bulettenkette lautet ja: weltweit dieselbe Norm, also überall der gleiche Burger, dieselben Fritten, derselbe Parkplatz und … dieselben Menschen, die sich im „McDonald’s-Modus“ befinden. Auch ich habe einen merkwürdigen Hunger, der mich magisch unter das gelbleuchtende „M“ führt. Mein Weg vom Parkplatz zur Eingangstür des Restaurants wird untermalt von Dieter Bohlens schrillem, kastratenartigen Gesang. Die Lautsprecher des besagten Wagens hämmern „Modern Talkings“-Banalitäten dermaßen laut in die schwarze Membran, daß selbst das Kennzeichen angewidert im Takt mitscheppert! Eine verzerrte Melange aus unschöner Musik und grotesker Lyrik greift mich in ständig sich wiederholenden Salven an. Ich öffne schnell die erste Eingangstür, um mich vor dem akustischen „Hornissenschwarm“ zu retten, und befinde mich nun in einer Art Schleuse. Die Tür schließt sich langsam hinter mir.
„Brother Louie …“ rennt mit aller Wucht auf den immer kleiner werdenden Spalt der Vortür zu, doch „… Louie, Louie“ knallt dann nur noch dumpf gegen die geschlossene Glasscheibe der massiven Türe. Ich öffne den zweiten Teil der Schleuse; die Konversation unzähliger Stimmen empfängt mich. Zwischen dem Akustikbrei morst mich das bekannte und penetrante Piepsen der Friteuse an: „P.o.m.m.e.s-s.i.n.d-d.u.r.c.h!“
„Ich liebe es!“ Das steht hier überall. McDonald’s meint wohl die Beziehung zwischen den Kunden und seinen Bulletten. Und ich? Mag ich es auch? Ist es die kulinarische Pracht auf der Speisekarte, die mich immer wieder mal hier hineintreibt? Und überhaupt: Liebe! Welch großes Wort für dieses banale „Schnelleßspielchen“.
„Was darf es sein?“ Eine tätowierte Bedienung knallt das rote Tablett auf die Theke, darauf legt sie noch schnell die obligatorische Papierunterlage. „Gisela“ steht auf dem Schild an ihrem Poloshirt und auch „Freundlichkeit hat einen Namen“. Gisela ist aber genervt, und ich verstehe es, denn ihre Schicht war sicher anstrengend, da in dieser Ecke der Stadt die Schlange an der Kasse fast nie abreißt. Außerdem piepst es aus allen Ecken, und das sonore Gemurmel der Kunden verursacht Kopfschmerzen.
„Einen Cheeseburger, eine kleine Cola und einmal den Cäsar-Salat bitte!“ – „Mit Pommes?“ „Nein.“ – „Als Menü?“ – „Nein.“ – „Zum Mitnehmen oder zum hier Essen?“ – „Hier essen.“ – „Macht 5 Euro 49, bitte.“ – Pingpong-Spiel im Telegrammstil! Ich zücke das Portemonnaie, und ein wenig später befinden sich die Lebensmittel auf meinem Tablett. Was dann folgt, ist in „Fachkreisen“ weitläufig bekannt: man ißt seinen Burger, starrt beim Kauen auf den obligatorischen Flachbildschirm, in dem irgendwelche eintönigen Musikvideos laufen, und fragt sich am Ende, wo der Geschmack geblieben ist und wieso man sich das Ganze angetan hat. Wegen des Geschmacks – das ist klar – lohnt sich ein Besuch nicht allzusehr! Was ist es dann? Sicher, man bestellt etwas und bekommt das Essen einige Augenblicke später serviert, ein starkes Argument bei Hunger oder Eile. Ich bin aber meist gar nicht so hungrig, wenn ich diese Art von Lokal betrete, und außerdem genieße ich auch gern die Vorfreude auf das Essen.
Nein, es muß etwas anderes sein. Mein Blick schweift durch das Restaurant: Kinozeitschriften, Kindermenüs mit Spielfiguren aus beliebten Filmen und dieser amerikanische Anstrich, den ich auch aus so vielen US-Filmen kenne … natürlich, ich war in einem Film!
Ein Blick auf die bunten Utensilien der „McDonald’s-Welt“ verdeutlicht mir, daß der Weg hierher nicht ausschließlich über den Magen, sondern viel öfter über den Hunger geht, etwas erleben zu wollen, Teil einer Erlebniswelt zu sein! Neben dem, was nachher tatsächlich mit reichlich Geschmacksverstärkern präpariert im Bauch landet, ist es eben auch der Reiz, sich in eine Art Kino-Atmosphäre hineinzubegeben, ein Lebensgefühl, das durch eine raffinierte Werbemaschinerie mit viel Akribie und Aufwand geprägt wird. Wer das Restaurant betritt, der befindet sich augenblicklich als Akteur in einem Theaterstück, das in einer Endlosschleife abläuft und zu jeder Zeit die gleiche Spannungskurve für seine Besucher bereithält. Der Konsument wird zum Darsteller und spielt bei seinem kurzen Intermezzo das ihm zugedachte Stück „Ich beim Essen“, während Softeis, Burger und Co nebenbei zum Lebensinhalt werden – subtile McDonald’s-Dramaturgie, die ein Wertgefüge aus Banalitäten stilisiert.
Wer so etwas schluckt, muß sich jedoch die Frage gefallen lassen, warum er den Hunger seiner Seele mit solch einer plumpen Inszenierung zu befriedigen sucht, wo da draußen doch eine riesige Welt zum echten Erleben einlädt? Die moderne Zeit spannt den Impuls aus tiefer Seelenmitte vor den Karren einer gewinnbringenden Maschinerie und schafft es, den Menschen glauben zu machen, die innere Regung gelte tatsächlich einer ganz bestimmten äußeren Form.
Ist es die Angst, sich in die Fluten des Lebens zu wagen und Unerwartetes zuzulassen, ist es Trägheit?
Wenn ich mich hier mit meinesgleichen sitzen sehe, an die Jugendlichen mit ihren starren Masken und Weltbildern denke, dann wird klar, wie groß die Angst in der Gesellschaft vor Berührung und damit vor echtem Erleben ist. Denn Erleben heißt, sich berühren zu lassen, sich nicht als Zuschauer einer Inszenierung zu sehen, sondern Teil der Handlung zu sein, sich nicht neben, sondern unmittelbar in der Bandbreite aller möglichen Lebensrollen vorzufinden, je nach der Notwendigkeit eigener Entwickelung. „Wenn du dein Leben nicht so lebst, wie deine innere Stimme es dir eingibt, bekämpfst du das Beste in dir und endest gespalten und von dir selbst um dein Glück betrogen“, sagte Buddha.
„Ich liebe es!“ … Wieder lassen leere Kohlenhydrate den Magen anschwellen und überfrachten bunte Äußerlichkeiten das Bewußtsein, während die Seele auf Nulldiät gesetzt ist. Liebe ich es wirklich?