Es ist noch relativ früh am Morgen, als sich die überschaubare Reisegruppe auf einem Parkplatz im hohenlohischen Schwäbisch Hall einfindet und nach Begrüßung und ein wenig Morgenkalauer den Fußmarsch zur ersten Sehenswürdigkeit, einem kleinen romanischen Bauwerk, antritt. Wie nett, denke ich mir, denn vor der idyllischen Kleinkomburg – so heißt dieses ehemalige Kloster – erwarten uns am Gatter des angrenzenden Bauernhofs Dutzende aufgeregte Kälber mit treuherzigem Blick und zotteligem Bubenscheitel, um ihre Streicheleinheiten entgegenzunehmen und dabei dankerfüllt unsere Hände abzuschlecken!
Wolfgang Kuhn versteht es gut zu begeistern.Die Gruppe ist gerührt, und sicherlich ist eine Zeitlang für die Tierfreunde mit den eingespeichelten Händen Kalbfleisch auf der Speisekarte tabu! Das Herz ist nun weit geöffnet und bereit für die Kultur.
Das Interieur des romanischen Gemäuers erscheint mir anfangs sehr spärlich. Um genau zu sein, ist das Innere einfach nur leer, ferner ist es kühl und obendrein noch relativ dunkel – Idealbedingungen, um einem Stadtlicht wie mir die Tagesration Kultur schmackhaft zu machen, so denke ich schnell, sehen anders aus! Wo ist das „Drama“ in diesem muffigen Bau und warum wate ich überhaupt an diesem schönen Sonnentag in alten Klöstern, Burgen, Krypten umher und höre mir zudem noch Geschichten aus längst vergangenen Tagen an?
Hätte man doch manchmal mehr Geduld mit sich und den Dingen, so daß der scheue Blick in verheißungsvolle Tiefen von Zuversicht und steter Vorfreude getragen wäre! Denn wenn sich das Auge erst an den dunklen Raum gewöhnt, wenn der Drang zum anteilslosen Konsumieren und der stete Fluchtmechanismus vor kostbarer Erkenntnis einem tiefen und mutigen Blicke weicht, dann wird es urplötzlich ganz spannend in der Geschichte der Menschen, in der Historie alter Bauten, und die Welt um einen herum wird klarer, „heller“, noch im dunkelsten Gemäuer! Dazu muß man es jedoch wagen, mit der gewohnten Sicht auf die Dinge zu brechen, Denkschablonen zu überwinden und das Leben nicht nur im Fortschrittsglauben und in der Gegenwart zu suchen, sondern auch in vermeintlich langweiligen „abgelebten“ Zeiten. Allem Anschein nach spricht das Leben auch in diesen Geschichtsstunden zu uns, ganz deutlich und nicht minder intensiv, und lehrt uns im bunten Formenwandel die dahinterliegende Urkraft zu erahnen!
Sind es die Proportionen des Baus, ist es die Ruhe des Raumes oder der geheimnisvolle Duft der Zeit, welcher sich im bärtigen Sandstein verfangen hat? Ist es die Freude an eigener Imagination, die durch die nur andeutungsweise restaurierten Wandmalereien angeregt wird und mich Jahrhunderte zurückversetzt, mitten in einen Orden von kapuzengekleideten Mönchen, mitten in seine Bräuche und Denkweisen, die sich dann schließlich in der Formensprache dieser Architektur manifestierten? Oder schafft sich am Ende der Raum die Menschen? Egal! Des anfangs trotzigen Ressentiments ungeachtet, wirkt der spartanische Innenraum bald reizvoll auf mich und weckt mein ehrliches Interesse.
Etwas hatte sich entzündet; die Lust am Entdecken, die unsagbare Freude, völlig unerwartet im Fluß des Lebens zu stehen! Der Alltag weicht, und die Sinne werden geöffnet, so daß sich im Sehen und Erleben, aber vor allem im Erspüren der Natur- und Kulturräume die Schöpfungsgesetze kristallisieren. Nach einer kurzen, stillen Erkundungsphase schart sich die Gruppe um unsere „Reiseleitung“ – Ehepaar Kuhn -, das mit hochinteressanten Beschreibungen aus einem erfrischend anderen Blickwinkel jenseits des „Kulturpops“ aufwartet. Am Ende der Ausführungen bewegt sich Herr Kuhn merkwürdig lächelnd in eine Ecke des Klosters und kommt wenig später zu unser aller Überraschung mit einem ausgewachsenen Alphorn in die Runde zurück! Es ist unglaublich, wie die langen, getragenen Töne dieses mächtigen Instruments es fertigbringen, die Struktur des Gemäuers in mir abzubilden. Es ist, als ob man binnen weniger Augenblicke eine andere Sprache erlernt hätte und in den Metaphern dieser neuen Sprachkultur auf weitere, bisher noch unbekannte Facetten eines Gegenstandes stieße. Die Instrumentensammlung der Kuhns umfaßt übrigens neben dem Alphorn noch andere unorthodoxe Tonwerkzeuge, von denen wir im Laufe des Tages noch viele bemerkenswerte Raumklang-Collagen an diversen Orten zu hören bekommen …
Das Ehepaar kennt die Täler von Tauber, Jagst und Kocher gut, weiß, wo sich die Kleinodien befinden, in denen die Zeit unserer harrt und zum Nachempfinden einlädt. Zwischen den Fahrten zu diesen Juwelen wechseln Weiden, Auen, Wälder mit Weinbergen und schön gelegenen Dörfern, in denen wir gelegentlich auch einige Spezialitäten zu uns nehmen.
Immer wieder begegnen uns auf einsamer Flur, aber auch in der Mitte kleiner Dörfer, uralte Lindenbäume und anmutige Eichen; Zeitzeugen, die in tiefgefurchter Rindenschrift von einstigen Begebenheiten berichten.
In Erinnerung bleibt mir schließlich auch der kurze Diskurs im schützenden Reisebus während eines plötzlichen Regenschauers. Das Themengebiet: Spontaneität vs. Planung. Die Frage: Hätten wir uns auch bei einer schlechten Wetterprognose an diesem Wochenende getroffen? Half uns die verbindliche Planung, Trägheit zu überwinden? Alle Welt redet von Spontaneität, schnelle Entscheidungen sind gefragt, Flexibilität. Doch seien wir ehrlich: wer die Entscheidung über eine Wanderung der Wetterlage oder, noch schlimmer, der Wettervorhersage überläßt und bei seiner Entscheidung opportunistisch nach lachendem Sonnenschein schielt, der verpaßt die prägenden Erlebnisse, die eine Schlechtwetterwanderung eben auch mit sich bringen kann, filtert Moll und wundert sich, wieso die Dynamik in seinem allzu seichten Dur-Stück namens Leben abhanden gekommen ist!
Letztlich machen wir unsere Erkenntnisse doch immer nur, wenn die Zeit in uns spürbar reif dafür ist … einerlei, wann und wo! Außerdem gibt es bekanntlich kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung, der Rest liegt in der Einstellung des Menschen zu den Dingen begraben – oder, frei nach Heinrich Heine: „Die Herrlichkeit der Welt entspricht der Herrlichkeit des Geistes, der sie betrachtet.“