Königlich glitt er über sein Tal. So schön und prächtig wie sein Reich, so war auch Samkar, der Adler. Seinen scharfen, strengen Augen entging nicht die kleinste Kleinigkeit, auch wenn er noch so hoch am Firmament kreiste, und er war ein gerechter Herrscher, der vorausschauend die Geschicke seines geliebten Tales regelte.
Natürlich verstanden nicht alle Tiere die Strenge, mit der Samkar gelegentlich auftreten mußte, um die ursprüngliche Harmonie zu bewahren. Die meisten Mäuse zum Beispiel hatten Angst vor ihm, nur der älteste, erfahrenste Mäuserich, Javur, hatte keine Furcht. Er sah, wie wichtig Samkar für das Tal war, und zum Glück vertraute die große, freche Mäusefamilie Javurs Weisheit.
Eines Tages, als der Adler wieder seine Kreise zog, geschah es, daß ihn die Kugel eines Jägers streifte. Samkar verlor das Bewußtsein und stürmte in das hochstehende Getreidefeld. Da lag er, die Verkörperung des Himmlischen Elementes, regungslos und hilflos. Es dauerte aber nicht lange, bis die ersten neugierigen Mäuse sich ängstlich und übervorsichtig zu der Stelle pirschten, an der Samkar abgestürzt war. Sie sahen den mächtigen Herrscher und wagten kaum zu hoffen, daß nun die Angst ein Ende haben sollte und sie sich im Tal nach ihrem eigenen Wohlgefallen betätigen konnten. Eine der frechsten Mäuse wagte sich jetzt sogar aus der großen Mäusemenge hervor, die sich um den Greifer gebildet hatte, und berührte mehrmals mutig den gefiederten Körper Samkars. Dabei ging jedesmal ein Raunen durch den Kreis. „Er lebt noch!“, rief die übermütige Maus plötzlich den anderen zu, die immer noch in gebührendem Abstand diese so unwirkliche Szene beobachteten. Und gerade als die kleinen Mäuse beratschlagen wollten, was sie tun sollten, weiteten sich ihre Augen wie von selbst in panischer Angst. Wie zu Salzsäulen erstarrt standen sie da und sahen, wie Samkar aufwachte.
Niemand wagte zu atmen, sie waren wie gelähmt und bangten um ihr Leben. Der Adler aber blickte – ohne sich über seinen Zustand klar zu sein – zu der verdutzten Mäuseschar und fragte verwundert: „Wo bin ich, und was seid ihr für Kreaturen?“ Die Mäuse konnten es nicht fassen – wie ein unbeholfenes Baby stand er da auf seinen scharfen Krallen, die zwei Mäusen gleichzeitig hätten den Tod bringen können.
Da witterte eine schlaue Maus die Gunst der Stunde. Frech und ohne Respekt wandte sie sich zu Samkar und sagte: „Wir sind natürlich Mäuse – so wie du auch!“ Der Adler sah die Maus ungläubig an und fragte sie: „Warum bin ich denn größer als ihr?“ – „Du bist eben eine große Maus!“, war die rasche Antwort der schlauen Maus, ohne daß sie sich etwas von ihrer Lüge anmerken ließ. Ein wenig verdutzt überlegte der Adler noch und schaute verständnislos in die Gesichter der neugierig gaffenden Mäuse. Da er aber durch den Sturz sein Gedächtnis verloren hatte und über dem Schatz seiner Erfahrungen ein Schleier lag, nahm er die Erklärung der Maus als Tatsache an. Für ihn stand nun fest, daß er eine Maus war, zwar eine große Maus, aber ohne Zweifel eine Maus. Der Rest der Mäuseschar hatte die Situation schnell durchschaut, bald gingen sie alle wieder ihren Geschäften nach, als ob nichts gewesen wäre, und alles hatte den Anschein der Normalität. Samkar fühlte zwar irgendwie, daß er nicht ganz er selbst war, doch da die Mäuse ihn wie einen der ihren behandelten, fügte sich der Zeit seines Lebens pflichtbewußte Herrscher nun auch seinen Mäusepflichten.
Die Tage kamen, die Tage gingen, und Samkar war bei den Mäusen im Dorf geschätzt, da er sie oft vor allerlei Gefahren beschützt hatte. Einmal, als eine Schlange auf Beutesuche war, kam Samkar angerannt und verscheuchte sie, was für ihn, als größte und stärkste Maus, gar kein Problem war. Doch während sich die Schlange zurückzog, hörte er sie noch mischen: „Der stolze Adler kriecht auf dem Boden wie eine von uns!“ – Adler? Adler? Es ist, als ob mir eine ferne Stimme etwas sagen will … Oft schon hatte Samkar einen inneren Ruf vernommen, aber noch nie hatte er ihn verstanden. Besonders stark wurde dieses Drängen, wenn er an der großen Schlucht stand, die das Tal durchzog und der Wind ihm unentwegt etwas zuzurufen schien. Dann kam wieder dieses Sehnen in ihm auf – aber ach, es war zum Verzweifeln, er war doch nur eine einfache Maus! Traurig senkte Samkar sein majestätisches Haupt und machte sich wieder an seine Pflichten.
Der Großteil der Mäuse sah in der Erniedrigung ihres Herrschers die gerechte Strafe für all die Angst und Furcht, die sie durch ihn hatten erdulden müssen. Daß er aber nur dann eingegriffen hatte, wenn ihre Freßsucht ein unheilvolles Maß angenommen und viele andere Tiere darunter zu leiden hatten, daran dachten die Mäuse jetzt natürlich nicht mehr – bis auf Javur, der sehr besorgt das Treiben seines Volkes beobachtete. Er hatte von dem Vorkommnis zu spät gehört, um die Situation ohne Schaden für beide Seiten zu retten …
Da die Mäuse mit dem mächtigen Freund an ihrer Seite keine Furcht mehr zu haben brauchten, wurden sie unachtsam. Sie lagen am hellichten Tage faul in der Sonne und aßen so viel, wie sie in ihre nimmersatten Mägen hineinbekamen. Für Samkar war dieses Treiben unbehaglich, und er bemerkte, wie deutlich er sich von den anderen Mäusen unterschied. Er war nicht gierig und stets der Wachsamkeit verpflichtet. Die Mäuse aber feierten wieder einmal einen ihrer Freßtage, ein regelrechtes Gelage, als ob es ihr letztes wäre. Einige lagen trunken von gegorenen Früchten im Schatten und säuselten unschöne Lieder. Angewachsen war die Mäuseschar; das ganze Tal litt mittlerweile unter ihr. Javur aber war in großer Sorge wegen der Veränderungen in seinem Volk. Er war der letzte unter den Mäusen, der noch voller Stolz war und wußte, daß zu einem echten Mäuseleben nicht nur Wohlergehen gehörte. Traurig sah er auch, was aus Samkar geworden war, dessen Schicksal so eng mit dem seines Volkes verknüpft war.
Die Zeit war reif zu handeln! Javur lief zu dem Grasnest, welches sie speziell für die größte aller Mäuse gebaut hatten. Es lag ein wenig abseits hinter dem Dorf. Auf dem Weg dorthin betrachtete er nochmals bewußt das einst so gewitzte Mäusevolk, sah es trunken, vollgefressen und fett, ohne jeden Respekt und ohne Wachsamkeit der allzeit lauernden Gefahr gegenüber, die früher zwar eine strenge Lehrerin war, aber ohne die das Volk nie so geschickt, schnell und lebendig geworden wäre.
Er stand nun vor Samkar, der traurig in die Lüfte sah. „Javur“, sagte er ein wenig verlegen, ohne sich dabei umzudrehen, „mir zerbricht beinahe das Herz vor Sehnsucht.“
Gespannt hörte Javur zu. „Ich weiß, es klingt ein wenig komisch, aber manchmal glaube ich, daß ich eine besondere Maus bin.“ – „Denkt so nicht jede Maus?“ entgegnete Javur vorsichtig. „Das stimmt schon, aber wenn ich die anderen Mäuse so an der Erde kleben sehe, möchte ich am liebsten aus meiner Mäusehäut schlüpfen und – fliegen.‘„ Für einen Moment war es ganz still, dann fuhr Samkar mit dem Mut der Verzweiflung fort: „Adler! Adler! Ich höre unentwegt einen Ruf, doch begreife ich nicht den Sinn … ich weiß nur, meine Brust hebt sich voller Stolz beim Schwingen dieser Worte, meine Augen gleiten hoch ins himmlische Blau und meine Pfoten weiten sich und versuchen, das geliebte Element zu tasten, als ob sie ein Teil von ihm wären.“
Javur schaute ihn würdevoll an, ließ sich aber weder sein Mitgefühl anmerken noch die Scham, die er jetzt empfand. Dann fragte er Samkar: „Was weißt Du über den Adler?“ – „Nicht viel, keiner hier kann ihn mir richtig beschreiben, fast alle sprechen schlecht über ihn. Man sagt aber, er könne fliegen!“ – „Und was weißt Du über das Fliegen?“ – „Man hat mir erklärt, daß Fliegen genauso ist, als ob die schnellste Maus übers Feld rennt … aber ich empfinde noch etwas anderes dabei. Weißt Du was es sein könnte?“ Javur blickte fragend zum Himmel. Er sah keinen Weg, Samkar etwas zu erklären, was er selbst als Maus nur in Worten kannte, aber nie erlebt hatte. Doch er sah Samkar liebevoll an und fragte fast schelmisch: „Du bist doch die größte Maus, nicht wahr?“ – „Ja“, erwiderte Samkar. – „Und Du bist doch auch die schnellste Maus, oder?“ Wieder bejahte Samkar und war gespannt, worauf Javur hinauswollte. „Wenn also Fliegen das gleiche ist, als ob die schnellste Maus übers Feld rennt, dann bist du genau der Richtige, um zu erfahren, wie es ist zu fliegen. Probiere es aus, worauf wartest du?“
Samkar sah in die schwarzen Augen Javurs und wußte, daß er ihm vertrauen konnte. Und er begann zu laufen, während Javur ihn aufmunternd anfeuerte: „Renne übers Feld und – fliege!“ Da wurde der Ruf in Samkar lauter und lauter: „Adler! Adler! Adler!“ Stolz hob sich seine Brust, seine Augen sahen in den Himmel, Und seine „Pfoten“ ertasteten das luftige Element. Samkar rannte, wie noch nie eine Maus gerannt war, schneller, immer schneller, und immer lauter dröhnte der Ruf in ihm. Er wußte, wenn er jetzt nicht stoppte, würde er die große Schlucht hinunterstürzen, der er sich in Windeseile näherte. Doch Samkar konnte, wollte nicht mehr zurück. „Adler! Adler!“ Der Ruf hatte sich als unerschütterliche Gewißheit in seine Seele gepflanzt, er mußte ihm folgen, auch wenn es sein Ende sein sollte.
Und das Reich der Lüfte erschloß sich ihm, Samkar erhob seine mächtigen Schwingen, und mit den Schlägen seiner Flügel besann er sich wieder vollends seiner Herkunft. Jede Bewegung; seiner Schwingen, jeder Blick seiner Augen, jeder Schrei seiner Kehle war – Adler. Nach kurzem Flug landete Samkar neben Javur, der ihn unerschrocken, aber mit Respekt, ansah. Dann schwang er sich wieder in die Lüfte.
Javur aber wußte, wem nun die Stunde geschlagen hatte! Panik brach unter den fetten, betrunkenen Mäusen aus. Sie rannten um ihr Leben, als sie sahen, wie Samkar sich ihnen im Sturzflug näherte. Doch viele waren zu dick geworden, um rechtzeitig in ihre Mäuselöcher flüchten zu können. Javur sah alles vom Hügel aus, er neigte traurig sein weises Haupt, aber ohne Zweifel an der Gerechtigkeit dieses Geschehens.