Zugegeben, der Name „Frauentausch“ der RTL2-Sendung hat schon etwas Anstößiges an sich. Um die Einschaltquoten zu bedienen, lassen sich Fernsehmacher mitunter gerne rätselhafte Wortkonstruktionen oder eben provokante Titel einfallen. Die qualitative Verortung dieser Reihe ist nach der Durchsicht der Programmzeitschrift jedoch zunächst einmal gar nicht so klar zu definieren, da das Sendeformat, ähnlich wie die bekannte „Supernanny“, populär-pädagogisch daherkommt und mit hochtrabenden Worten Bildungsanspruch vorgaukelt. Die Absicht der Programmgestalter wird jedoch bereits nach den ersten Minuten der Sendung klar, denn hier wird in Wirklichkeit der Unfall, das „Krawall-TV“ in seiner Reinform generiert und Sensationsgier bedient. Um diesen Effekt zu erzielen, lassen die Produzenten in den einzelnen Folgen diametral auseinanderdriftende Gesellschaftsschichten frontal „aufeinanderkrachen“ – je weiter entfernt die sozialen Lager der Protagonisten, desto größer die Aufprallenergie!
Die Spielregeln bei „Frauentausch“ lassen sich schnell zusammentragen: die Mütter und Ehefrauen zweier in ihren Philosophien komplett unterschiedlichen Familien werden für zehn Tage ausgetauscht. Fortan darf Frau A vor laufender Kamera in der Tauschfamilie B wildfremde Kinder samt Ehemann versorgen, die Wohnung sauber und die Familie bei Laune halten, während Frau B dasselbe für Familie A macht. An sich wäre das Pseudoexperiment tatsächlich keine Zeile wert, doch als ich vor einigen Monaten in diese Sendung hineinschaltete, kristallisierte sich vor meinen Augen ein Gleichnis, an das die Macher sicher nicht dachten! Auf der einen Seite traf der neugierige Zuschauer eine nette buddhistische Bilderbuchfamilie mit drei einfühlsamen Kindern, einen auf Liebe und Mitgefühl bedachten Elternteil, der den Rest der fröhlichen Runde vorwiegend vollwertig, also mit Biokost versorgte, morgens um sechs Uhr seine buddhistischen Praktiken und Gebete ausübte und sogar den Spinnen an der Decke putzige Namen gab! Das Gegenmodell zu Familie A fand RTL2 in einem wenig attraktiven Plattenbau irgendwo in Deutschland. Das Profil dieser Familie ist schnell gezeichnet: arbeitsloses Ehepaar in tristem Wohnsilo, getrimmt auf Fertigkosteinerlei, übergewichtig, abgestumpft. Was nun in den folgenden 45 Minuten geboten wurde, war selbstverständlich haarsträubend. Während aber die Konstellation „Buddhistische Frau zu Besuch im Plattenbau“ lediglich verschroben lustig wirkte, gaben mir die Umstände in der Versuchsanordnung „Plattenbaufrau im Buddhistentempel“ sehr zu denken.
Eigentlich ist jede Frau durch die Spielregeln des Experimentes dazu verpflichtet, sich um den Haushalt der „neuen“ Familie zu kümmern und elterliche Pflichten zu übernehmen. Das sah die junge Dame aus dem Plattenbau jedoch ganz anders, denn anstatt beispielsweise die Kinder morgens schulfertig zu machen, also mit Kleidung und Pausenbroten zu versorgen, lehnte die Tauschmutter schnell jegliche Verpflichtung ab und fühlte sich eher wie im Urlaub. Sie verweigerte die Hausarbeit sowie das gemeinsame Mahl mit der Familie; „Bio“ lehne sie aus Prinzip ab. Sie wolle unbedingt Fertignahrung aus der Kühltruhe zu sich nehmen, Bio sei einfach nur ekelhaft.
Trotz der Eskapaden und des provokanten Verhaltens der jungen Frau versuchte sich der Familienvater in Verständnis, erklärte seinen Ansatz, reflektierte gar das Verhalten des Gastes, grenzte aber auch sich und seine Familie von allzu platten Vorwürfen ab. Letztlich fruchtete in der von RTL2 angesetzten Zeit keiner der gut gemeinten Versuche, die junge Dame in ein einigermaßen harmonisches Gefüge zu integrieren. Gesunde Ernährung wurde verpönt, eine arrangierte Yogastunde verlacht, selbst das Frühstück, das von den Kindern in einem rührenden Akt der Nächstenliebe ans Bett der Tauschmama gebracht wurde, verschmähte diese mit ihrer Rosinenpickerei. Nach den zehn Tagen mußte der erstaunte Zuschauer schließlich mit ansehen, wie eine völlig entnervte Frau hektisch ihre Koffer packte und sich gar ohne eine rechte Verabschiedung aus dem „Hochdruckgebiet“ dieser an sich so freundlichen und liebenswerten Familie schimpfend verflüchtigte. Ein letzter Satz fiel noch in Richtung der Kamera, quasi als krönender Abschluß: „Das war die schlimmste Zeit meines Lebens!“ Spätestens hier stockte mir der Atem. „Nein, gute Frau“, dachte ich instinktiv, „es war die beste Zeit Ihres Lebens! Sie wissen es nur noch nicht!“
Ich schaltete den Fernseher aus, und eigenartigerweise wurde mir plötzlich die Schlagzeile der letzten Tage bewußt. „Selbstmordattentäter sprengt sich in die Luft und reißt Dutzende Menschen mit in den Tod!“ Ein Abschiedsvideo hatte die „Vorfreude“ des Attentäters auf das Paradies gezeigt. Wieso, fragte ich mich, erscheint vor meinem geistigen Auge die Frau aus dem Plattenbau und zugleich das stereotype Bild eines Attentäters? Wie gehören diese Personen wohl zusammen? Er glaubt an einen wundersamen „Aufzug in den Himmel“, an ein Paradies, das durch spektakuläre Taten erreicht werden kann; die ignorante Dame hingegen hat der „RTL-Aufzug“ bereits „nach oben“ befördert, aber sie hält dem paradiesähnlichen Zustand nicht stand. –
Lassen wir alle sozialen Schwierigkeiten außer acht, die einen Menschen dazu bewegen mögen, wahllos unbekannte Leben auszulöschen. Lassen wir also außer acht, daß die Bildungssituation in den Rekrutierungsgebieten der Selbstmörder miserabel, sprich deckungsgleich mit Armut und Unterdrückung ist, so bleibt dennoch jedem Menschen als mahnendes Bollwerk gegen das Übel das eigene Gewissen. Jeder könnte ohne weiteres empfinden, daß alles geplante Töten, egal für welches Ziel auch immer, nur schlecht sein kann, daß solch eine Tat in unrettbare Tiefen ziehen muß! Doch dieser aufkeimenden Ahnung setzt der Lebensmüde tyrannisch seinen persönlichen Glauben entgegen, der, wie bei jedem Menschen, dem Liebe, Mut und Phantasie fehlen, nur auf einer lückenhaften, schematischen Sicht der Welt fußt. Das Endergebnis jener „Denke“ ist die Hypothese, daß man durch das simple Betätigen eines „Knopfes“, also durch eine besondere Tat, direkt in himmlische Gefilde befördert werden kann, daß jegliches Unrecht, jede Charakterschwäche fürderhin keine Rolle mehr spielt, da man „dort oben“ eine Vergebung erfährt, die stets nur das Gutgemeinte in der eigenen Missetat sieht.
Nehmen wir einmal an, der Selbstmord-Attentäter könnte nach seinem „Ehrenmord für den Schöpfer“ tatsächlich in jenem reinen Himmelreich erwachen, das wir Menschen uns alle ersehnen: Mit seiner Gesinnung würde er das Geheimnis der ihn umgebenden Schönheit, der ihn plötzlich erfüllenden Geborgenheit gar nicht erkennen, da er seinen Sinn für die Natur dieser Kräfte nie entfaltet hat. Er würde vielleicht orientierungslos umherirren, und keine der Antworten auf seine Sinnfragen könnte er begreifen, sie würden ihm als rätselhaftes Geflüster, als bizarre, fremde Form entgegenschlagen und ihn bald zutiefst abstoßen! Er wäre einem permanenten und höchst unangenehmen Druck ausgesetzt, dem er sich früher oder später entziehen müßte … wie die Tauschmutter aus dem Plattenbau, die nicht erkennen konnte, daß sich die Welt um sie herum tatsächlich zum Besseren gewandelt hatte.
Den „Aufzug in den Himmel“ gibt es nicht. Treffender zeichnet Hermann Hesse sein Bild vom strebenden Menschen in der Schöpfung: „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen, der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.“ Jeder ahnt, daß eine gewaltige Metamorphose vonnöten ist, um dem Druck in einem wie auch immer gearteten geistigen Reich standzuhalten. Die fundamentale Frage, die zur Grundlage der Lebenseinstellung wird, ist indes, wer diese Arbeit zu erledigen hat – ein Wundergott, der auch Mörder und Verbrecher in Heilige verwandelt, oder der Mensch selbst …