Völlig unerwartet erfuhr ich während eines Einkaufs von einem Bekannten, daß meine ehemalige Freundin – meine erste große Liebe – bereits seit einigen Tagen im Krankenhaus lag. Da es schon eine Weile her war, daß wir uns getrennt hatten und es keinen regelmäßigen Kontakt zwischen uns beiden mehr gab, wußten wir auch nicht, was sich im Leben des anderen alles abspielte. Als mir der „Informant“ den Namen ihres Leidens mitteilte, wurde mir schnell klar, wie ernst die Lage war, da ein mir nah Verwandter vor einiger Zeit unter derselben Krankheit gelitten hatte. Natürlich ließ mich diese Nachricht nicht kalt, und weil mich das Gespräch im Supermarkt nach einigen Stunden noch immer beschäftigte, beschloß ich, der geliebten Gefährtin von einst einen Besuch abzustatten.
Der Weg ins Krankenhaus glich einer merkwürdigen Reise zurück in die gemeinsame Vergangenheit, wobei sich besonders rote Ampeln als hinterhältige Zeitraffermaschinen entpuppten, die mich beim Warten unweigerlich in den einstigen Beziehungskosmos zurückverfrachteten. So lief ich in der bekannten Kulisse des einstmals so erfolgreichen Stückes namens „Unsere Liebe“ umher, während um mich herum das Leben in einer anderen Zeit vorbeifloß. Je näher das Hospital kam, desto klarer sah ich die einstige Beziehung vor mir, und als ich am Ende dieser eigenartigen Zeitreise am Parkplatz angelangt war und den Zündschlüssel abzog, kristallisierte sich zum wiederholten Male vor meinen Augen unser einstiges Grundproblem: Neulandsüchtiger prallt auf Mauerbauerin! Sie, der Sicherheitsmensch, der nichts dem Zufall überließ, die Spontaneitätsbremse, die alles planen mußte – und ich, der Impulsive, der sich stets unüberlegt den Entdeckerfreuden hingab und notwendige Planungen konsequent in den Wind schoß, um nur ja ungefiltert und intensiv wahrnehmen zu können. Damals dachte ich zudem noch, meine Begeisterung für die Welt der Metaphysik könnte zu einer gemeinsamen spirituellen Entdeckungsreise motivieren, quasi Hand in Hand ins Abenteuerland.
An der elektrischen Eingangstür des Krankenhauses erinnerte ich mich an einen „legendären“ Spaziergang, bei dem ich meine Herzdame verzweifelt auf die Schulter wuchtete, um ihr dadurch möglichst plastisch die Macht eines Perspektivenwechsels zu veranschaulichen. Im Krankenhausaufzug angekommen, konnte ich mir dann angesichts dieses nicht gerade ästhetischen Huckepackbildes das Lachen einfach nicht mehr verkneifen! „Die Welt offenbart dir ungeahnte Geheimnisse, wenn du nur einen Perspektivwechsel zuläßt und nicht immer krampfhaft den Dogmen des Zeitgeistes zu entsprechen versuchst!“ So oder ähnlich versuchte ich damals Siebzehnjähriger sie in einem dramatischen Appell für ein Leben jenseits ihres Reinraumes zu begeistern. Grün hinter den Ohren, rezitierte ich nette Kalenderweisheiten und konnte nicht sehen, daß ich den von mir soeben propagierten Weg selbst nur bereit war zu gehen, wenn sie mir im Akt einer Spontanerleuchtung den Beweis liefern würde, daß das gerade Gesagte auch tatsächlich wahr ist! Im Grunde war ich wohl derjenige, der überzeugt werden mußte.
Sie fühlte sich unwohl da oben, auf der Schulter eines Mannes, der sie offensichtlich nicht dort stehen lassen wollte, wo sie so sein konnte, wie sie nun einmal war: gutgläubig, behutsam, zufrieden mit dem sicheren Blick vom Ufer auf die rauhe See; eben kein Himmelsstürmer, kein Tiefseetaucher. Ich erinnerte mich, wie sehr ich damals unter der Erkenntnis litt, daß wir in dieser extremen Konstellation einer mehr als ungewissen Zukunft entgegeneilten. Als ich am Ende noch mit buddhistischen Gedanken sympathisierte und ihr das Buch eines indischen Yogis in die Hand gab, der sie vom Einband aus im Lendenschurz entrückt anlächelte, hatte ich, wie es das unübersehbare Unbehagen auf ihrem Gesicht verriet, wohl den Bogen überspannt. Um es abzukürzen: die Visionen für unsere gemeinsame Zukunft bestanden damals entweder aus Programm eins:
Heirat, Heim und Vorgarten, Kinder und allmähliches Ausbleichen im Glanze einer schalen Alltagssonne – oder Programm zwo: eine lendenbeschürzte Zukunft in einer kalten Höhle im tibetischen Hochland mit der wenig attraktiven Vorstellung, jedes sinnlose Alltagsstreben in einer Roßkur Tag für Tag zu enttarnen, um endlich irgendwann das Leben ungeschminkt und ehrlich in seiner ganzen Pracht zu erblicken …
All diese Episoden waren Jahre her, waren in der schweren Zeit nach der Trennung verarbeitet worden – und doch: kurz vor der Tür in das Zimmer der Patientin überkam mich eine Beklemmung, die sich in der soeben nachempfundenen Quintessenz dieser Beziehung manifestierte und sich erneut an dem Wort „Sicherheit“ festbiß.
Am Ende war der Besuch wider Erwarten doch sehr schön. Wir redeten über alte und über neue Zeiten und freuten uns, daß wir nach den turbulenten Tagen unserer Zweisamkeit ganz entspannt miteinander reden konnten, ohne Emotionsstürme zu entfachten. Auf dem Nachhauseweg stieß es mir dann aber doch noch einmal auf, dieses Reizwort „Sicherheit“.
Offensichtlich assoziierte ich mit dem Begriff ganz unweigerlich eine Trennung von den Fluten des Lebens, fühlte mich durch diesen „Schwimmflügelzwang im Männerbecken“ der Lächerlichkeit ausgesetzt. Das Sicherheitsbestreben meiner ehemaligen Partnerin erschien mir als blockierender Schutzwall, der sich hemmend vor die einzigartige Schönheit einer unmittelbaren und konzeptlosen Erfahrung zu stellen drohte und meinen Vorwärtsdrang hemmte … „Was nutzt es dir, daß die Welt groß ist, wenn dir deine Pantoffeln zu klein sind?“ fragt ein türkisches Sprichwort.
Als ich eines Abends – Jahre nach der Begegnung im Krankenhaus – auf dem Nachhauseweg von einem Kundenbesuch war, hörte ich im Radio eine schicksalhafte Staumeldung, die dieses einseitige Selbstbildnis um eine Facette bereichern sollte. Dem Nachrichtensprecher zufolge würde die momentan noch flüssige Fahrt auf diesem Autobahnabschnitt ab der nächsten Ausfahrt in ein heilloses Stauchaos münden. Was tun? Natürlich die Umleitung fahren, die der freundliche Sprecher aus dem Äther mir ans Herz legte. Nächste Ausfahrt: 300 Meter, Blinker gesetzt, raus auf die Bundesstraße. Ein Mann, ein Wort – dem Schicksal im Stau ein Schnäppchen geschlagen!
Die Freude über meine innere Flexibilität und mein geschmeidiges Agieren hielt jedoch nur knappe drei Kilometer an, denn natürlich war auch die empfohlene Umfahrung hoffnungslos überfüllt. Langsam schlängelte der Troß vor sich hin, und da wir uns mitten im Herbst befanden, wurde es zu allem Überfluß durch eine plötzlich aufziehende Gewitterfront noch sehr ungemütlich. Bald war alles dunkel um mich herum, die Lichtkegel der Autos färbten meine nasse Windschutzscheibe in ein rotweißes Aquarell, in das es immer wieder, im Takt einer mir unzugänglichen Symphonie, orangefarben hineinblinkte. Ich bewegte mich durch eine unbekannte Stadt, auf einer mir unbekannten Straße, während der Atem des Regens die Welt um mich herum vertrübte. Ich fühlte mich abgekämpft nach der langen Arbeit und wollte nur noch nach Hause – ins traute Heim, sehnte mich nach einer warmen Mahlzeit, nach einem Bad, nach Zeitung, Fernsehen, Zentralheizung und all den anderen Nettigkeiten unserer modernen Zeit. Diese neue Straße war mir zuwider. Auf der Autobahn wäre ich zwar auch im Stau gestanden, doch kannte ich dort immerhin noch meine Route, konnte die Strecke innerlich vorausplanen, einteilen und dabei wenigstens die Illusion haben, Herr meines Weges zu sein. Angesichts dieser vielen einleuchtenden Gedanken setzte ich irgendwann an einer Kreuzung schnellentschlossen den Blinker und kehrte tatsächlich zum wohlbekannten Autobahnstau zurück!
Es dauerte eine Weile, bis mir die Tragweite dieser Entscheidung klar wurde. Hatte der „Himmelsstürmer“ nicht soeben den sicheren Weg dem unbekannten und abenteuerreichen vorgezogen? War das verbriefte Ankommen im Heim nun plötzlich doch wichtiger als die packende Dramatik eines bisher noch unentdeckten Weges, der in sich doch eine – ach so kosmische – Erlebnisfülle barg? „Du bist wie ein Mensch, der vor zwei Türen mit den Aufschriften ,Vielleicht zum Glück‘ und ,Sicher ins Unglück‘ steht. Du entscheidest dich, damit ja nichts Neues, Unberechenbares geschieht, viel zu oft für die ,sichere‘ Variante – mit allen schrecklichen Folgen!“ Diese Worte, die einst auf meine Partnerin gemünzt waren, klangen in mir nach, während ich zugleich hoffte, daß diese Wegbegleiterin von einst mir meinen jugendlichen Eifer, meine Dummheit verzeihen möge.
„Glücklich ist, wer das, was er liebt, auch wagt, mit Mut zu beschützen …“ Hätte ich Ovid nur früher verstanden!
Die Inschriften auf den Schicksalstüren waren mir nur deshalb als so widersprüchlich erschienen, weil ich mein eigenes Prinzip, meine Art, auf die Fragen des Lebens zu antworten, als einzige „Wahrheit“ über den Weg und die Wirkweise meiner Partnerin gestellt hatte. Dabei ist beides im Menschen verankert – der Vorwärtsdrang, die Streitsucht des Entdeckers, sein Wille, Brachland urbar zu machen und es den Klauen der unfertigen Dunkelheit zu entreißen, aber auch die stille Kraft des Verteidigers, der sein Lager aufrichtet, es bewahrt und gegen jede Unbill hält, für Nahrung und Pflege sorgt. Je nach Augenblick kann das eine oder das andere wichtiger sein.
Eine Rose blüht in unbekanntes Terrain hinein, erstreitet sich mit Duft, Form und Farbe leeres Niemandsland, doch immer sichert sie den neuen Lebensraum auch mit ihren Dornen ab!