Wer vor Jahren das Glück hatte, den redseligen TV-Moderator und Buchautor Roger Willemsen auf der Tournee zur Neuerscheinung seines Buches „Afghanische Reise“ zu erleben, der wird sicherlich noch heute die manuskriptfrei dargebotenen Reiseberichte des damaligen Abends lebhaft vor Augen haben! Bei einer Veranstaltung saß er beispielsweise hinter einem mickrigen Tischlein, auf der leeren Bühne eines ehemaligen Kinos, links und rechts nur flankiert von bleichroten Vorhängen und dem obligatorischen kargen, kinoschwarzen Hintergrund. Derlei Minimalismus ungeachtet, entfesselte Willemsen im Publikum dennoch von Beginn an das, was in dem alten Lichtfilmhaus einst sicher zu oft Mangelware gewesen ist, was überhaupt nur wenige Regisseure zustande bringen: die kleine zauberhafte Geste, das unverfälschte Wort aus der Seelenmitte, mit der ein Saal voll fremder Menschen in das eigenartig synchrone wie belebende Schwingen hautnahen Erlebens gerät! Die Laterna Magica „hinter den Augen“ wurde unverhofft entzündet, und sie brachte dem Publikum durch Willemsens mutige „Improvisationslust“ große Bilder aus einer alten, fremden Welt. Die Zuschauer, das war selbst durch die spärliche Mimik entrückter Blicke ganz klar ersichtlich, „sahen“ das ferne, urtümliche Afghanistan, das Leid und Lachen seiner Kinder, spürten die Tiefe einer alles versengenden Kälte im warmen Herzen einer majestätischen Natur und erlebten so eine Berg- und Talfahrt zwischen echten Tränen und herzhaftem Lachen.
Für alle, die Willemsens Veranstaltungen nun gerne gesehen hätten, hier die gute Nachricht: es gibt auch noch cineastische Tickets ins Reich der Paschtunen! Allerdings muß sich der Filmregisseur für eine ähnlich intensive Reise dorthin ordentlich ins Zeug legen, will er der Dramatik einer guten mündlichen Überlieferung aus erster Hand etwas entgegensetzen! Dies kann aber durchaus gelingen, in dem man beispielsweise eine herausragende Romanvorlage wie den „Drachenläufer“ des afghanisch-amerikanischen Bestsellerautors Khaled Hosseini aus dem Jahre 2003 zugrundelegt! Eine wirklich opulente Analogie der Worte in sein dazugehöriges „Bildkleid“ schaffte das 2007 verfilmte Epos allerdings erst durch das inszenatorische Talent des Schweizer Regisseurs Marc Foster, der zuletzt sehr erfolgreich die eingestaubte James-Bond-Serie rundum erneuert ins frische Jahrtausend verfrachtete. Auch wenn man sich jetzt fragt, ob der Zeremonienmeister eines rabiaten Geheimdienstmachos für solch einen sensiblen Film geeignet ist: er ist es! Marc Forster lebt hier nämlich eine ganz andere, eine epische wie geduldige Bildsprache aus, wenngleich er (zum Glück) auch dieses Mal nicht auf möglichst spektakuläre Bilder verzichtet!
Hosseinis „Drachenläufer“ beginnt kurz vor dem Einmarsch der Sowjets in das prosperierende Kabul der 1970er Jahre. Der Betrachter erlebt in den ersten Sequenzen verwirrend schöne Bilder der afghanischen Hauptstadt, die so gar nichts mit dem täglichen Dreiminutenelend oder der Ruinenkulisse in der Tagesschau gemein haben. Obwohl jedermann klar sein sollte, daß es sich bei den Kamerafahrten und großartigen Totalen um einen synthetischen Bildermix handelt, wirkt Fosters „Computer-Kabul“ dennoch so glaubhaft und detailreich, daß man nicht eine Sekunde an der Echtheit der Bilder zweifeln möchte. Die Illusion greift … Kebabgeruch durchstreift herzhaft tanzend die engen Gassen, vorbei an Lehmhäusern und überfüllten Bazaren, in denen Händler in traditioneller Kleidung eifrig feilschend das Geschäft ihres Lebens zu machen wähnen. Kritisch beäugen Wasserpfeife rauchende Männer in den umgebenden Teehäusern, sowie die stummen, schleierumschlungenen Frauen so manchen Handel und besiegeln ihn mit einem flüchtigen, wohlwollenden Blick für die „Ewigkeit“! Mitten in diesem ethnischen Farbklecks leben die Hauptfiguren Amir und Hassan. Zwischen Amir, dem Sohn eines reichen Paschtunen und Hassan, dem Sohn eines in der Rangordnung der standesbewußten Afghanen ganz unten angesiedelten Hazara, müßte eigentlich eine tiefe Kluft bestehen, da sich zu den Standesunterschieden noch der Umstand gesellt, daß Hassans Vater ein Bediensteter im Hause Amirs ist. Nichtsdestotrotz verbindet die beiden eine sehr berührende wie tiefe Freundschaft – eine schicksalhafte Bande, die erst relativ spät im Streifen ihre erschütternde Erklärung finden wird …
Während der nachdenkliche Amir sichtlich schwer mit den Schuldgefühlen über den Tod der Mutter bei seiner Geburt zu kämpfen hat, zeichnet sich der treue und ebenfalls halbwaise Hassan durch eine herzensgute Einfachheit und unsagbare Loyalität seinem besten Freund gegenüber aus. Die Besetzung des introvertierten Amirs, vor allem aber Hassans (Ahmad Khan Mahmoodzada) ist hierbei so paßgenau gewählt, daß man über die wohl intuitiven Fähigkeiten der jungen Schauspieler nur staunen kann. Hassans Lebensweisheit ist für den wankelmütigen Amir oft nicht zu ertragen, und deshalb versucht er, Hassan immer wieder mit dummen Streichen und Mutproben aus der Reserve zu locken, ihn, den „Überfreund“ zum ganz normalen, fehlbaren Jungen zu „degradieren“. Hassan, der den so ausgeheckten Unsinn nicht nachvollziehen kann, ist seinem Freund jedoch in solch einer Treue ergeben, daß er auch diesen „Wünschen“ nachkommt. So bleibt Hassan zum Leidwesen Amirs, durch seine noble Art dennoch stets unberührt von Schuld, rein, da selbst der begangene Regelbruch vor der „Strahlkraft“ Hassans aufgelöst scheint.
Der seltsame Name des Films bezieht sich auf einen populären Wettkampf, bei dem Gruppen von je zwei Kindern, ein Drachenlenker und ein Drachenläufer, versuchen, die Drachen der rivalisierenden Mannschaften von den Schnüren zu kappen – kameratechnisch ein wahrer Augenschmaus! Während Amir als Lenker die ganze Ehre manches großen Sieges zuteil wird, freut sich Hassan eher aus der zweiten Reihe. Diese demütige Art beeindruckt den strengen und stolzen Vater Amirs sehr, kränkt jedoch bei so manchem Lob zwangsläufig auch den eigenen Sohn. So brodelt in Amir ein explosiver Gefühlscocktail, in das Hosseini noch ein folgenschweres Ereignis beimengt, um damit dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Nach einem Wettkampf wird Hassan von einer rassistischen Clique von Paschtunen demütigend vergewaltigt. Vor lähmender Angst versagt Amir in dieser Schlüsselszene kläglich, beobachtet die Erniedrigung Hassans heimlich und wagt es einfach nicht einzuschreiten. Die Schuldgefühle wiegen dermaßen stark in Amir, daß er die Nähe seines Freundes fortan nicht mehr erträgt und sich daher zu einem fatalen Komplott gegen ihn entscheidet! Amir versteckt hierbei einen persönlichen Gegenstand in die Habseligkeiten seines Weggefährten und bezichtigt ihn daraufhin bei seinem Vater, also dem Dienstherren Hassans, des Diebstahls. Selbst als Amirs Vater, die Rochade seines Sohnes nicht erkennend, dem vermeintlichen Delinquenten gütevoll verzeihen möchte, räumen Hassan und sein Vater das Bedienstetenhaus! Zu groß ist der Ehrverlust, zu groß die Schmach für den geschätzten Herrn, wenn sie ihrer Ahnung Raum ließen, daß der Diebstahl eine Intrige Amirs ist! Wortlos und mit fragenden Blicken verläßt Hassan sein bisheriges Heim und damit auch das Leben seines Freundes – ein Abschied für immer und eine Last, die Amir durch die Wirren seines Erwachsenwerdens mitschleppen wird! Der Einmarsch der Sowjets 1979 beendet die Blütezeit Afghanistans und bringt zusammen mit der darauf folgenden „Befreiung“ durch die radikal islamischen Taliban eine nicht endenwollende Zeit des Schreckens. Amir und sein Vater sind durch den Einzug der Sowjetarmee in einer abenteuerlichen Nacht- und Nebelaktion zur Flucht und zu einem Neuanfang im Exil in den USA gezwungen, wo Amir als junger Mann – Housseinis Vita läßt grüßen – im Laufe der Zeit zum gerngelesenen Schriftsteller avanciert.
Ein zentrales Element des „Drachenläufers“ ist Schuld und Sühne. Diesem Leitthema folgend erreicht Amir als stattlicher Mann im fernen Amerika schließlich eine Nachricht aus Pakistan. Sein Onkel und treuer Mentor aus Kindheitstagen konfrontiert Amir zu dessen Verblüffung mit einer schlichten, aber weitreichenden Botschaft: „Es ist Zeit, du kannst es wiedergutmachen!“ Die Chance für Amir! Kurzentschlossen reist er nach Afghanistan, in die Vergangenheit, wo Hassan post mortem mit einer kuriosen Notiz noch einmal Amirs Leben beflügeln, jedoch auch allen bisher schlummernden Mut beanspruchen wird. Im letzten großartigen Freundschaftsdienst befreit Hassan Amir aus dem Gefängnis seiner zaghaften Mutlosigkeit … und rettet dabei zwei Menschenleben!
Der „Drachenläufer“ berührt mit der fantastischen Würde seiner Charaktere, die ihre Kraft aus einer tiefen, unspaltbaren wie unerschrockenen Aufrichtigkeit beziehen – eine Tugend, der sich der stetig relativierende „Westmensch“, ganz richtig empfindend, nicht entziehen kann!