Der Begriff „Integration“ wird gerade in den letzten Wochen aufgrund der sog. Flüchtlingskrise überaus inflationär verwendet. Das Erstaunliche an der aktuellen Debatte ist dabei allerdings die qualitative Verortung des so häufig verwendeten Schlagwortes – denn während der Begriff im politischen Diskurs der letzten Jahrzehnte noch wie ein ungeliebtes Stiefkind behandelt wurde, scheint er momentan aufgrund einer nicht nachvollziehbaren Wende in der deutschen Einwanderungspolitik, quasi über Nacht aufgewertet.
Integration lautet auf einmal das politische Gebot der Stunde, und dieser Wille nach Eingliederung soll jetzt, angesichts zahlloser Flüchtlinge, zack, zack gehen, am besten gestern. Wohin jedoch, und in was überhaupt integriert werden soll, bleibt ziemlich vage. Wenn man es ein wenig makaber und verkürzt auf den Punkt bringen möchte, so lautet das momentane Credo der Verantwortlichen einfach nur: seid nett und integriert.
Dabei war gerade die Ausländerpolitik der letzten Jahrzehnte alles andere als nett oder integrativ. Bislang zeichnete die Politik in Puncto Migration und Integration nämlich noch immer ein ziemlich düsteres Bild. Ein Bild, wonach die wohlstandsumschmeichelten Bürger ihren Lebensraum vor den Begehrlichkeiten „der Fremden“ schützen müssen. Eine Sichtweise also, die auf einen alten, stammesgeschichtlichen Reflex abzielt, der auf Trennung, Abgrenzung und Verlustangst basiert, und Menschen durch wahltaktische Kampfparolen je nach Stand entweder mobilisiert oder stigmatisiert.
Woher soll sie also kommen, die Liebe zur gemeinsamen Heimat, das Ideal von einem „Hand-in-Hand“, hin zu neuen Ufern, wenn dieser Bereich bislang eher brach lag und große Teile beider Bevölkerungsgruppen in einer sterilen, möglichst berührungsfreien Haltung verharren?
Natürlich ist mit der momentan vorangetriebenen Art der „Wir-schaffen-das-Integration“ lediglich die schnelle Eingliederung der Neuankömmlinge in die Erwerbstätigkeit gemeint. Damit verbunden ist der fromme Wunsch, daß mit Arbeit und einem Dach über dem Kopf auch die viel wichtigere gesellschaftliche Anbindung der Einwanderer schon irgendwie von selbst funktionieren werde. Tatsächlich hat aber eine wundersame Harmonisierung des sozialen Miteinanders zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen auf diese Weise noch nie funktioniert, nicht, weil es sich bei den Deutschen um ein besonders fremdenfeindliches Volk handelt oder Migranten grundsätzlich nicht hierher passen würden, sondern, weil die langwierigen Integrationsprozesse innerhalb einer Gesellschaft in erster Linie auch durch einen kontinuierlichen politischen Prozess begleitet werden müssen.
Auch wenn Integration in erster Linie eine Angelegenheit des Alltags und somit der Bürger ist und sie deshalb nur über direkte Begegnungen, über das Verstehen-wollen unterschiedlicher Lebensweisen, über respektvollen Dialog, und schließlich dem Finden und Pflegen gemeinschaftlicher Umgangsformen funktionieren kann, so muß sie doch vor allem politisch gewollt sein und über Legislaturperioden hinweg als Generationenprojekt verstanden werden.
Das mangelnde Interesse der Regierungsparteien an ihren Migranten, das Desinteresse, sie als gesellschaftlich relevante Akteure in die Vision einer gemeinsamen Zukunft programmatisch miteinzubeziehen, führte jedoch dazu, daß im Grunde nie eine aktive Ausländerpolitik im Sinne eines Forderns und Förderns stattgefunden hat. Wenn das Thema in die Presse oder auf die Agenda kam, dann ging es meist nur um weitere Maßnahmen der Abgrenzung oder um Sanktionen. Das Ergebnis ist eine zurückhaltende, abwehrende, oftmals gar abwertende und sehr stark an Sicherheitsfragen orientierte Ausländer- bzw. Einwanderungspolitik.
Andererseits ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, wie es Clemens Wergin in der Welt treffend beschreibt, daß „… die Gastarbeiter der ersten Generation meist aus kulturell zurückgebliebenen Gegenden Europas angeworben wurden. Ihre Arbeitsplätze waren die ersten, die der Automatisierung zum Opfer fielen und später der Auslagerung in Billiglohnländer. Zurück blieben oft schlecht ausgebildete Migranten, indem sich Bildungsferne meist auch in die zweite und dritte Generation vererbte.“
Hetzkampagnen in den Jahren zwischen 1980 & 1990
Um die heute teils extremen Gefühlslagen beim Thema Integration verstehen zu können, ist ein Blick in die Vergangenheit unumgänglich, denn ob es uns bewußt ist oder nicht: die Ausländerpolitik der letzten Jahrzehnte, speziell die sog. „Asyldebatte“ in den 1980er- und 1990er-Jahren prägt nach wie vor das eher negative Bild des Ausländers in Deutschland und die Vorstellung, bis wohin Integration überhaupt gehen darf. Kern der damals aggressiven Stimmung im Land war, ähnlich wie heute, die steigende Zahl an Asylsuchenden. Die Lage in den besagten Jahren war, was die reinen Flüchtlingszahlen angeht, sogar weit dramatischer, als es momentan der Fall ist, zumal historisch einige Großereignisse zusammenfielen, wie der Bürgerkrieg in Jugoslawien, der Fall der Mauer, der Zusammensturz des Eisernen Vorhangs und die Rückkehr zahlreicher Aussiedler.
All das führte 1992 zu einer Rekordzahl von knapp 440.000 Asylanträgen – ca. 110.000 mehr als aktuell – und damit gleichzeitig zum Auftakt einer bis dahin nicht gekannten Feindseligkeit gegenüber Gastarbeitern und Asylanten. 1986 starteten die Unionsparteien CDU und CSU zum Zwecke einer Grundgesetzänderung eine beispiellose Hetzkampagne gegen den Mißbrauch des Asylrechts, die maßgeblich von der Bild-Zeitung mitgetragen wurde und später als eine der aggressivsten und folgenreichsten Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte bewertet wurde.
Aus heutiger Sicht betrachtet ist auffällig, wie sehr sich die Parolen der verschiedenen Jahre ähnelten, wohingegen sich die Feindbilder relativ häufig veränderten. Erst waren es Gastarbeiter, Asylanten oder Türken, eine Zeit lang galt die Aversion den Ostdeutschen, dann wiederum den Muslimen und heute sind es schließlich die Flüchtlinge. Während die CDU in den 1980er-Jahren beispielsweise noch vor 50 Millionen Asylanten warnte, die nach Deutschland kommen könnten, spricht die CSU heute davon, daß an den Grenzen 60 Millionen Flüchtlinge stünden und die Gesellschaft implodieren könne.
Aus haßerfüllten Worten werden bekanntlich haßerfüllte Taten, und die Folgen dieser Propaganda waren – wie schon so oft – brennende Unterkünfte, z.B. in Hoyerswerda, und die tödlichen Brandanschläge auf die Häuser zweier türkischer Familien in Mölln und Solingen, bei denen insgesamt acht Menschen ums Leben kamen. Um das rechtskonservative Klientel nicht vor den Kopf zu stoßen, lehnte der damalige Bundeskanzler Kohl die Teilnahme an den beiden Trauerkundgebungen ab, weil er, so sein Sprecher, nichts von „Beileidstourismus“ halte. Bei derlei Zynismus von höchster Stelle verwundert es nicht, daß sich schon bald eine Vielzahl an rechtsradikalen Gruppierungen und sog. „Bürgerwehren“, vornehmlich im Osten bildeten und von ostdeutschen Verfassungsschutzbehörden lange Zeit geduldet, man sollte mittlerweile besser sagen, massiv unterstützt wurden. Auch die Terrorzelle NSU, die in den 1990er-Jahren entstand, ist zweifellos ein Kind des politischen Rassismus’ jener Jahre.
Irrationale Sichtweisen
Die verbalen Schmierereien dieser Zeit reichen bis tief in die heutige Gegenwart und verstärken dabei nicht nur die sowieso schon vorhandenen Ängste und Vorurteile der Einheimischen, sondern auch die der Migranten. Sie erzeugen trotz reichhaltiger Faktenlage durch soziologische Studien oder Statistiken nach wie vor sehr irrationale Vorstellungen über die Verhältnisse im Land und darüber, wie Einheimische und Migranten ticken.
Pegida-Anhänger gehen beispielsweise Montag für Montag auf die Straße, weil sie der Meinung sind, ihr Land sei überfremdet und kurz davor, in muslimische Hände zu fallen. Faktisch liegt der Ausländeranteil im Bundesland Sachsen jedoch nur bei 1 %, und der Anteil der Muslime sogar nur bei 0,5 %. Das in diesen Kreisen sich ebenfalls hartnäckig haltende Vorurteil, Zuwanderer wollen nur Sozialleistungen erschleichen, wurde jüngst von einer im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellten Studie untersucht. Dabei zeigte sich, daß in 2012 allein die 6,6 Mio. Menschen ohne deutschen Pass für einen Überschuß von rund 22 Milliarden Euro in den Sozialkassen sorgten.
Auch Vergewaltigungsgerüchte haben in Zeiten gefühlter Überfremdung immer wieder Hochkonjunktur. Es kämen, so das Vorurteil, vor allem sexuell ausgehungerte Männer nach Deutschland, die nichts anderes im Sinn hätten, als blonde deutsche Frauen zu vergewaltigen. In Donaueschingen, so ein Bericht des Nachrichtenmagazins Panorama, machte z.B. das Gerücht die Runde, ein Flüchtling hätte ein 14-jähriges Mädchen vergewaltigt und ihr am Ende sogar noch ein Ohr abgeschnitten. Die Polizei stellte am Ende der Ermittlungen öffentlich klar, daß es nie zu einer Vergewaltigung kam und daß Flüchtlinge im Durchschnitt genauso wenig oder oft straffällig werden wie Vergleichsgruppen der hiesigen Bevölkerung. Das einzige, was festzustellen sei, ist die unglaubliche hohe Zahl an Übergriffen gegen Flüchtlinge, aber auch gegen Ehrenamtliche, Journalisten und Politiker.
Doch derartige Fakten haben, obwohl wissenschaftlich erhoben, längst religiösen Charakter: einige glauben daran und setzen sich konstruktiv damit auseinander, andere stempeln sie grundsätzlich als die Propaganda einer ausländerfreundlichen Lügenpresse ab. Es gibt mittlerweile in bestimmten, meist konservativen oder bildungsfernen Gesellschaftsschichten so etwas wie einen irrationalen Reflex auf allzu differenzierende Gedanken. Eine Diskussionskultur abseits von schwarz oder weiß ist in der Tat bei vielen Menschen nicht mehr festzustellen. Menschen, die sich derlei radikalisieren, sind jedoch, was das Objekt ihres Hasses anbelangt, interessanterweise auch nicht sehr wählerisch, solange große Gefühle bedient werden. Ein Beispiel aus der Sendung „Die Anstalt“ verdeutlicht dies. Max Uthoff zitiert dabei einen Artikel aus dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ wie folgt:
„Bei den Bundesbürgern macht sich zunehmend Angst breit, daß diejenigen, die nun Woche für Woche zu Tausenden mühelos über die Grenze kommen, unser Sozialsystem sprengen und den Wohnungs- und Arbeitsmarkt zum Kollabieren bringen. Nach vorsichtigen Schätzungen werden 1,5 Mio. Menschen erwartet. Viele fragen sich, „Wieso kommen die noch? Wissen die nicht, daß wir keine Wohnungen und Stellen mehr haben?“ In Stuttgart brannten Gegner ein Übergangsquartier bis auf die Grundmauern nieder. Täglich Schlägereien in Notquartieren, drangvolle Enge in Turnhallen und Kasernen. Frauen werden sexuell belästigt und deshalb kommt Gerd Stille, Bürgermeister im Niedersächsischen Rodenberg zum Schluß „Wir halten dieser Belastung nicht mehr stand!“, und er äußert im Namen vieler die Hoffnung „Hoffentlich wird die Mauer bald wieder dicht gemacht!“
Dieser Spiegel-Artikel ist aus dem Jahr 1990. Thematisiert wird hier also nicht die aktuelle Flüchtlingskrise, sondern der Ansturm der DDR-Bürger auf West-Deutschland, sprich: hier hassen Deutsche Deutsche!
Privatideologien
Fehlen klar formulierte Ziele in der Ausländerpolitik, wie es in Deutschland seit jeher der Fall ist, so hat das handfeste Auswirkungen auf den Alltag und auf die wechselseitigen Vorstellungen von Einheimischen und Zugewanderten. Ohne gelebte Handlungsnormen steigt die Gefahr, daß sich Teile der Bevölkerung irgendwann von der Idee eines gesamtgesellschaftlichen Konsens verabschieden und in eine Art „Privatideologie“ flüchten. Gerade wenn es um Zuwanderung oder Integration geht, sind es heute mehr denn je einfache, holzschnittartige Standpunkte, die durch Fragmente aus verqueren Internetadressen, Youtube-Videos, kettenbriefartigen Newslettern zu einer Art Ersatzreligion hochgerüstet werden. Im Grunde geht es bei alledem aber nur um die Untermauerung eines höchst subjektiven und vollkommen überhobenen Lebensgefühls, das sich in seiner Charakteristik ziemlich einfach mit den beiden Worten „Mißtrauenskultur“ und „Apokalypsengeilheit“ umreißen lässt!
Laut dem Konfliktforscher Andreas Zick ist die Art, wie derartige Polarisierungsidentitäten gebildet werden in allen Gruppierungen, egal ob Pegida oder Salafisten gleich. Die Fragen lauten: „Wer sind wir, was ist unsere Heimat, unsere Identität? Wer ist der Feind? Und wo liegt die Bedrohung? Über den jeweiligen Feind werden viele Informationen gesammelt, und ständig rückt die Bedrohung näher.“ Pegida, Hogesa, Salafisten, Taliban, Haßprediger, Ku-Klux-Klan, der ganze Kosmos an religiösem Extremismus, rassistische Stammtischmythen, die sich teils von Dorf zu Dorf unterscheiden, ja die ganze kleinkarierte Leitkulturdebatte, die umso gruseliger ist, je konkreter die Definitionen werden; all diese destruktiven Mikroideologien sind geprägt von tendenziellen Sichtweisen und selektiven Privatstatistiken, die ihrem Wesen nach ziemlich stark an Verschwörungstheorien erinnern, also prinzipiell nicht an konstruktiven Lösungsansätzen interessiert sind.
Soziale Schieflage
Die Ausländerkarte war schon immer ein beliebtes Wahlkampfmittel, um entweder besonders konservative Wähler mit Vorurteilen zu versorgen oder bildungsferne Gesellschaftsschichten durch subtile Ängste zu mobilisieren. Ein Großteil der Bürger, die von diesen Einschnitten betroffen sind, sehen jedoch nicht, daß an den gravierenden sozialen Problemen nicht Migranten ursächlich schuld sind, sondern viel eher die Regierenden, die mit ihrer Politik für die Reichen und Eliten brisante sowie ungerechte Lebensbedingungen für die Mehrzahl der Bürger geschaffen haben.
Man darf dabei nicht vergessen, daß die Integrationsleistungen in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten überwiegend von sozial schwachen Schichten erbracht wurden, die zudem noch mit den Neuankömmlingen um Jobs, Sozialleistungen und Wohnraum konkurrieren. Die Oberschicht und Finanzeliten haben sich schon relativ lange von einer maßgeblichen Gesellschaftsgestaltung verabschiedet, was man alleine an den ganzen Steuer-CDs und der damit verbundenen Steuerflucht sehen kann. Das eigentliche Problem der Mittel- und Unterschicht ist so gesehen nie eine andere Gesellschaftsgruppe gewesen, sondern immer nur eine Politik, die eine ungleiche Verteilung des Wohlstands zugunsten machtvoller Eliten vorantreibt.
Es muß einen doch so gesehen wundern, wieso sich die Deutschen mehr vor dem Islam fürchten, als beispielsweise vor den sozialen Folgen der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, der Erosion der Privatsphäre durch das Erstarken eines Überwachungsstaates, der Blindheit des Verfassungsschutzes vor dem tagtäglichen rechten Terror, vor Altersarmut oder der Umweltproblematik.
Der gefälschte Armutsbericht des Jahres 2013 zeigte deutlich, daß man zum Zwecke einer möglichst liberalen Wirtschaftspolitik, sogar nicht davor zurückschreckte, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Das damals von der FDP geführte Wirtschaftsministerium veränderte seiner Zeit genau die Passagen in dem Bericht, die das Auseinanderklaffen der Gesellschaftsschichten ganz offen thematisiert. Das waren Sätze wie „ … die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt”, oder „Während die Lohnentwicklung im oberen Bereich positiv steigend war, sind die unteren Löhne in den vergangenen zehn Jahren preisbereinigt gesunken. Die Einkommensspreizung hat zugenommen. Diese verletze das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und könne den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.“
Man darf sich angesichts der heutigen sozialen Verwerfungen nicht wundern, wenn in großen Teilen der Gesellschaft Skepsis, Angst oder gar blinde Wut zu spüren ist, zumal sich gerade bei den Menschen mit mittlerem und niedrigem Einkommen, durch die vorangegangenen Finanzmarktkrisen und der finanziellen Umverteilung von unten nach oben, mit teils dramatischen sozialen Einschnitten, ein erhebliches Mißtrauen in „die da oben“ festgesetzt hat. 2/3 der Menschen in Deutschland glauben mittlerweile nicht mehr, daß es in ihrem Land gerecht zugehe, und zwar weil immer weniger Menschen auch reell Anteil am Wohlstand haben. Laut einer Studie leben in Deutschland mittlerweile knapp 16% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Für 70% der Erwerbstätigen sind die Löhne kaum gestiegen, bei den 20% der unteren Einkommensschichten war der Lohn sogar rückläufig – sie können sich heute weniger leisten, als vor 10 Jahren.
Bei den oberen 10% haben sich die Einkommen jedoch verdoppelt. Laut einem Bericht der Wirtschaftswoche teilen sich die unteren 50% der Bevölkerung 1% der Besitztümer, während den oberen 10% mehr als die Hälfte des Nettovermögens gehört. Zudem verdienen Männer immer noch fast ein Drittel mehr als Frauen und Ostdeutsche nicht einmal halb so viel wie Westdeutsche.
Diese Kennziffern geben uns zu verstehen: Haß, egal in welcher Abstufung er sich letztlich zeigt, basiert meist auf ungerechten sozialen Verhältnissen und ungerechter Politik. Der damit verbundene permanente Mangel treibt Menschen in die Isolation, macht sie leblos und krank.
Ökonomisierung der Welt fördert dumpfen Haß
Es gibt eine Vorstellung von Integration, die ganz der um sich greifenden Ökonomisierung der Welt folgt. In ihr werden Migranten größtenteils an einer eiskalten Kosten-Nutzen-Rechnung bemessen, sprich, wer leistet etwas, wer leistet nichts? Wenn konservative Kreise jedoch Menschen wie Gegenstände an Rentabilitätskriterien messen, dann sollte man so fair sein und sich schon auch einmal fragen, ob z.B. die CSU-Steuergräber nur der letzten Monate, wie z.B. Maut, Betreuungsgeld, unterirdische Stromtrassen oder Transitzonen, mit der die Partei nur eine wahnsinnig teure Symbolpolitik für den Stammtisch fabriziert, nicht noch viel größeren volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet?
Man könnte sich bei diesen zynischen Hochrechnungen doch auch kurz vor Augen führen, wie viel Steuergelder im Gegenzug in die Rettung anscheinend systemrelevanter Banken geflossen sind. Deutsche Steuerzahler haben seit 2008 insgesamt 236 Milliarden Euro für die Bankenrettung bezahlt. Allein die Rettung einer für uns alle eher nichtigen Bank wie der Hyper Real Estate hat den Steuerzahler schätzungsweise 20 Mrd. Euro gekostet. Man muß sich das einmal vorstellen: ich und die meisten Leser hatten nichts mit dieser Bank zu schaffen, dennoch mußten wir sie „retten“, weil sie „too big to fail war“. Die Empörung, die angesichts dieser Tatsache spürbar sein sollte, verblaßt jedoch gegen die Empörung, die einige überkommt, wenn es um das Thema Flüchtlinge oder Finanzierung der aktuellen Lage geht!
Nur um einen Größenvergleich zu haben: Die Pauschalkosten pro Flüchtling und Jahr werden momentan auf ca. 13.000.- Euro geschätzt. Falls es am Ende des Jahres also wirklich 1 Million Zuflucht suchende Menschen werden sollten, sprechen wir hier von Hilfsleistungen von 13 Mrd. Euro pro Jahr, wobei dazu gesagt werden muß, dass ja nur etwa 1/3 der Asylsuchenden auf Dauer bleiben können. Gehen wir von den unrealistischsten Maximalwerten aus, so stehen für jeden Bundesbürger somit Kosten von knapp 170,- Euro pro Jahr zu Buche.
Ganz ehrlich: Ich persönlich „investiere“ – wenn wir schon bei diese kalten Terminologie sind – doch lieber in das Überleben eines Kindes, dessen Lachen ich miterleben kann, anstatt es Tod im Fernsehen ertragen zu müssen. Ich investiere doch auch lieber in Menschen und Familien, die vielleicht eines Tages unser marodes Rentensystem stützen oder den demographischen Wandel durch den Geburtenrückgang abfangen, als in eine Zockerbank, die rein gar nichts für das Allgemeinwohl tut! Die großen systemrelevanten Banken sind im Grunde ja sowieso nichts anderes als gigantische Agenturen der Umverteilung hin zu den Reichsten. Wenn man vor dem Hintergrund der großen sozialen Probleme und Einschnitte liest, daß die Vermögen der europäischen Millionäre mit 17 Billionen Euro die Staatsschulden aller EU-Staaten übertrifft, dann muß man sich schon einmal fragen, wer die wahren Wirtschaftsflüchtlinge und Sozialschmarotzer sind!
Integration als geistiger Weg
Viele Menschen glauben, daß es kulturelle Konstanten gäbe, die man einfach abgreifen könne, daß es also z.B. etwas typisch Deutsches, Französisches, Türkisches usw. gäbe. Doch sobald man darum bittet, diese Werte doch ein wenig genauer zu bestimmen, wird es ziemlich diffus, sehr subjektiv und immer, davon kann man ausgehen, emotional. Wer typisch deutsche Sitten und Gebräuche zum Inhalt einer gesellschaftlichen Pflicht erheben möchte, der sollte sich fragen, warum sich Migranten an etwas halten sollten, worüber sich nicht einmal die Mehrheit der Einheimischen einig ist? Zum anderen muß die Frage erlaubt sein, ob jeder Bürger, gleich wie er sich verhält, ein bedingungslos integrierter Teil der Mehrheitsgesellschaft sein kann? Ein deutscher Skinhead? Sicher nicht integriert! Ein deutsch-persischer Schriftsteller, wie Navid Kermani? Sicher integriert!
Momentan versuchen viele Bürger geradezu verzweifelt klarzustellen, daß sie angesichts der vielen Fremden nicht die Minderheit im eigenen Land werden wollen, und daß ihre Heimat wiedererkennbar bleiben muß. Das Problem ist nur: wer einen lebendigen Kulturraum in eine Schatztruhe stecken möchte, um ihn zu konservieren, der hat seine Identität doch schon längst verloren! Die vielen Dialekte, die Küchen der Länder, musikalische Einflüsse, Kunst sowieso, Technologie, Wissenschaft, das Pilznetzwerk auf dem Waldboden, über das Bäume miteinander kommunizieren, überall bestehen Querverbindungen, fließt eine Erfahrung in die andere, baut eine Entwicklung auf die Erfahrung eines anderen. Das Leben, das könnte die fundamentale Einsicht für ein neues Weltbild sein, ist von der grobstofflichen Welt bis in die Feinstofflichkeit hinein, als ein phantastisch ineinandergreifendes, bewußtes Netzwerk verschiedenartigster Lebensformen und Bewußtseinszustände zu verstehen, in dem gilt: „Nehmen, Wandeln, Weitergeben, ist das Grundgesetz im Leben“ (Richard Steinpach).
Fremde Einflüsse sind nicht, wie viele denken, der Untergang eigener Identität, sondern – gesundes Selbstbewußtsein vorausgesetzt – im Gegenteil die Grundvoraussetzung für pulsierendes Leben und Wachstum. Wir können uns nicht an eine ganz bestimmte Form ketten, denn wenn es etwas Verläßliches auf der Welt gibt, dann ist es der Wandel der Formen. Sich im Wandel des Seins treuzubleiben, bedeutet viel mehr jenseits der stofflichen Welt an Werten zu orientieren, die zeitlos und kulturübergreifend sind.
Das eigentliche Problem an der Integration ist, daß sie in der Begegnung mit dem Nächsten immer mehr über uns selbst sagt, als über denjenigen, den wir als Fremden ansehen. Der Fremde ist im Grunde ja nichts anderes als ein Platzhalter, eine Projektionsfläche der eigenen Innenwelt, zum Zwecke der Selbsterkenntnis. Je nachdem, wie bewußt ich in mir wohne, kann die Begegnung mit mir selbst im Nächsten sehr schön oder eben überaus furchterregend sein.
Das ist auch die Kernaussage des Jesus-Gleichnisses von Splitter und Balken: was mich am Nächsten stört, daß stört mich im Wirklichkeit nur an mir selbst. Das ist im Grunde hauptsächlich mein Defizit, an dem ich arbeiten muß, meine Verantwortung aber auch … ein in mir schlummerndes Talent, das darauf wartet, veredelt zu werden!
Die Frage ist so gesehen: Welchem Ideal sollten wir uns durch eine gelebte Integration jenseits der heutigen Sachzwänge und extremen Gefühlslagen eigentlich wirklich nähern? Ich finde, Integration kann keine Forderung sein, der man sich wie ein Feind zu ergeben hat, kein völkischer Kennwert. Sie ist für mich viel mehr eine kulturübergreifende Lebenshaltung, die scheinbar sich gegenüberstehende Ansichten derart vereint, daß universelle Werte für das Leben entstehen können.
Wenn man so will ist die Integration die Treppe hinauf zu einem Turm, auf dem es möglich wird, die vielen individuellen Blickwinkel in der Gesellschaft von einer atemberaubenden Vogelperspektive aus verstehen zu lernen. In der Konzentration auf das, was uns menschlich eint und nicht das, was uns trennt, führt sie uns über viele Stufen hinauf zu einem Leben, nach dem wir uns jenseits der Sinnlosigkeit eines zermürbenden Materialismus’ geistig sehnen. Die Integration ist ein symbiotischer Weg zur Selbsterkenntnis, eine Lebenskunst, die mich im Nächsten abbildet und – Liebe vorausgesetzt – mich in mir ankommen läßt.