Götz Werner setzt sich seit Jahren für das Bedingungslose Grundeinkommen ein. Er ist überzeugt, daß gesellschaftliche Veränderungen nur möglich sind, wenn wir radikal umdenken. Nachdem wird den dm-Gründer bereits 2011 interviewt haben, war es uns ein Bedürfnis zu erfahren, wie sich das Projekt BGE seitdem entwickelt hat. Und siehe da: Es tut sich mehr, als man auf den ersten Blick vermutet! Immer mehr Unternehmer sehen im Bedingungslosen Grundeinkommen „die“ große Chance für einen fundamentalen Paradigmenwechsel.
Herr Werner, wie haben Sie die Abstimmung in der Schweiz über das Bedingungslose Grundeinkommen aufgenommen? Wie waren Ihre Erwartungen?
Götz Werner: Der ganze Prozeß um das Grundeinkommen begann vor vielen Jahren mit einer engagierten Diskussion um unser zukünftiges Verhältnis zur Arbeit. Allen Beteiligten war klar, daß ein Umdenken in diesem Bereich nur durch einen langanhaltenden gesellschaftlichen Diskurs erfolgen kann, der natürlich mit Höhen und Tiefen verbunden ist. Mich hat der Ausgang der Wahlen daher nicht besonders überrascht, zumal bei den Schweizern noch hinzukommt, daß derart prinzipielle Entscheidungen schon einmal länger dauern können. Man denke nur an die späte Einführung des Frauenwahlrechts 1971. Da kam der Erfolg erst mit der dritten Volksabstimmung.
Wichtig ist bei alledem, daß das Thema in der Gesellschaft virulent bleibt. Dennoch läßt sich mehr und mehr beobachten, daß sich die Utopie von einst zu einer denkbaren und dadurch auch reellen Option entwickelt hat. Das Bedingungslose Grundeinkommen wird inzwischen weltweit diskutiert. Es gibt die ersten regionalen Testläufe, z.B. in Finnland und im Schweizer Lausanne. Sogar der Zukunftsguru und Tesla-Chef Elon Musk und andere CEOs, aber auch viele Politiker sprechen sich mittlerweile für das Bedingungslose Grundeinkommen als Antwort auf das Gesellschaftsmodell der Zukunft aus. Den Verantwortlichen wird offensichtlich immer klarer, daß wir mit der digitalen Revolution vor Herausforderungen stehen, die wir mit alten Denkschablonen, vor allem aber tradierten Menschenbildern nicht mehr bewältigen können.
An welchem Punkt sehen Sie denn die aktuelle Debatte in Deutschland?
Götz Werner: Vor Jahren bedurfte der Begriff des Bedingungslosen Grundeinkommens noch einiger Erklärung. Heute können viel mehr Menschen mit dem Begriff etwas anfangen. Das halte ich für einen Erfolg, da die Denkanstöße langsam aber sicher greifen.
Was bei der Debatte oft nicht gesehen wird, ist die Tatsache, daß es ja schon ein bedingtes Grundeinkommen gibt. Das sind die staatlichen Transferleistungen, z.B. im Sozialbereich, die allerdings auch an spezifische, teils unwürdige Bedingungen geknüpft sind und übrigens heute schon mit knapp 1000.- € im Monat zu Buche schlagen können, also fast genau dem Betrag, der mit dem BGE des Öfteren gefordert wird.
Wenn man aber die Welt verändern will, muß man neue Begriffe bilden. Das Bedingungslose Grundeinkommen definiert Arbeit und Einkommen deshalb auch radikal anders: Einkommen ist die Ermöglichung der Arbeit und nicht die Belohnung der Arbeit! Das ist tatsächlich so etwas wie eine Kopernikanische Wende im Denken. Ich benötige zuerst ein Einkommen, damit ich arbeiten kann. Das Bedingungslose Grundeinkommen mißt sich sozusagen kompromißlos an den Forderungen der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bzw. Geschwisterlichkeit. So ein Ansatz muß nach Jahrhunderten grundlegend anderer Gewichtung erst einmal in den Köpfen der Menschen ankommen, und dafür braucht es, wie schon erwähnt, eine gewisse Zeit.
Es ist doch auffallend, daß sich Menschen trotz Vollzeitarbeit und eventuell auch einem Plus auf dem Konto nach wie vor existentiell bedroht fühlen. Wieso ist das so?
Götz Werner: Da zeigt sich eben leider das vorherrschende Denkparadigma in unserer Gesellschaft, das wir jetzt endlich auflösen müssen, bevor diese alten Glaubenssätze vollends mit den aktuellen Begebenheiten und Bedürfnissen kollidieren. Der Angelpunkt des neuen Denkens ist, wie schon gesagt, daß man Einkommen und Arbeit nicht mehr miteinander verbinden darf. Einkommen ermöglicht Arbeit. Hätten Sie beispielsweise kein Einkommen, könnten sie vielleicht nicht einmal die Fahrt von Heilbronn nach Stuttgart bezahlen, um dieses Interview zu führen. Sie benötigen das Einkommen, um überhaupt arbeiten zu können. Das Interview an sich, also die eigentliche Arbeit ist jedoch unbezahlbar. Gesellschaftlich glauben wir aber immer noch, wir bekommen das Einkommen, weil wir arbeiten.
Einkommen ist also das eine, die Fähigkeit, Arbeit zu leisten, das andere. Es macht dabei einen großen Unterschied, ob ich in der Arbeit um der Arbeit Willen aufgehe, oder ob ich, wie ein Söldner, einem leblosen Prinzip diene. Denn aus der Haltung, Geld sei der Sinn und das Ziel der Arbeit, müssen – die Gegenwart zeigt es – zwangsläufig ungute Abhängigkeiten, Konkurrenzkampf und Ausbeutung entstehen.
Der Mensch braucht also ein Einkommen, um zu leben, aber um über sich hinauszuwachsen, braucht er die Arbeit. Der wichtigste, spürbare Effekt des Umdenkens wird sein, daß die Menschen nicht mehr in einen Dauerzustand existentieller Not geraten werden. Solche Menschen sind ja von dem Wichtigsten abgekappt, das ihnen quasi innewohnt und der Gesellschaft als formende Kraft fehlt: den Willen zu arbeiten und zu verändern, Sinn und Notwendigkeit von Arbeit zu verstehen, sich konstruktiv und kreativ einzubringen und sich bei alledem als soziale Wesen zu verstehen!
Wenn ich mir keine Sorgen um meine Existenz mehr machen muß, weil mir das Grundeinkommen einen Freiheitsraum schafft, in dem ich bescheiden, aber menschenwürdig leben kann, fällt es mir viel leichter, mich an neue Ideen zu wagen. Davon profitieren dann alle. Die Auswirkungen des alten Denkens sind es, die unsere Welt gerade so spalten, irrsinnigerweise eine Welt, die von den heutigen Möglichkeiten her eigentlich schon ein Paradies ist!
Ein Paradies? Lesen Sie Zeitung?
Götz Werner: Ja, klar! Schauen Sie sich doch einmal um. Wir leben im Überfluß! Wenn Sie heute durch die Fußgängerzone laufen, was sehen Sie da? Nichts anderes, wie die Definition von Paradies: Es steht immer alles ohne große Mühen zur Verfügung.
Wenn ich Geld habe, kann ich mich mühelos bedienen, klar. Wenn ich ein paar Kilometer in den Süden, z.B. nach Syrien schaue, sehe ich zudem kein Paradies, viel mehr das Gegenteil. Von der Hölle der menschlichen Psyche will ich gar nicht anfangen.
Götz Werner: Was Sie beschreiben, ist doch keine Schöpfungsbegebenheit, sondern von Menschenhand gestaltet! Das ist doch genau der Skandal! Wir leben im Paradies und nutzen die Möglichkeiten nicht aus.
Wir reden doch von einem metaphysischen Begriff, bei dem die Wortwirklichkeit hinter den Buchstaben zu suchen ist und nicht materiell heruntergebrochen werden sollte. Was stellt denn in diesem Sinne das Paradies für Sie dar?
Götz Werner: Erstrebenswert für unser geistiges Wachstum ist, daß ein Mensch nicht mehr sein tierisches Erbe auslebt, nicht triebgesteuert umherläuft, sondern sich seiner selbst bewußt wird. Meiner selbst bewußt werde ich, wenn ich unabhängig werde von den äußeren, physischen Verhältnissen. Und das ist doch heute größtenteils schon möglich.
Die Lebensumstände sind bereits gegeben, um sich von der physischen Welt frei zu machen. Es liegt an uns, diese zu nutzen und uns jenseits materieller Zwänge im geistigen Sinne zu veredeln!
Entspringt die Koppelung von Einkommen und Arbeit und der daraus entstehende Existenzdruck nicht den zugrundeliegenden monotheistischen Glaubenssystemen mit ihrer Dialektik von Erbschuld und Sühnezwang? Man kann das ja leicht an dem protestantischen Arbeitsethos in den USA beobachten. Dort glauben die Menschen immer noch, daß sie Gott wohlgefällig sind, wenn sie es mit viel Ellenbogenmentalität und Entbehrungen vom sprichwörtlichen Tellerwäscher zum Millionär bringen. Dieser unmenschliche und völlig verlogene Traum ist nach wie vor die Blaupause für Erfolg! Jetzt heißt es in „God’s own country“ eben „Make America great again“.
Götz Werner: Leider lautet der heute noch wirkende Glaubenssatz tatsächlich viel zu oft, der Mensch sei von Natur aus träge und faul. Da Arbeit jedoch hart ist, muß der Mensch zur Notwendigkeit gezwungen werden und zwar im Schweiße seines Angesichts. Das ist die Strafe für jene „Sünden“, derentwegen er aus dem Paradies vertrieben wurde. Ich denke, viele gehen hierbei einfach von einem falschen Menschenbild, und übrigens auch von einem falschen Gottesbild aus. Ich kann aus meiner Erfahrung im Unternehmen nur sagen: Die Menschen arbeiten, weil sie arbeiten wollen, nicht, weil sie arbeiten müssen!
Neben dem von Ihnen aufgeführten Aspekt führen feudalistische, heute neofeudalistische Denkmuster zu den großen Problemen unserer Zeit. Wir wollen auch heute noch unsere Mitmenschen mit Abhängigkeiten unter Druck setzen, unseren Willen erzwingen und Macht ausüben, quasi als emotional spürbare Bestätigung der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz. Der autoritäre Führungsstil, wie er momentan in Russland oder der Türkei vorherrscht, das spüren wir alle, ist aber sicherlich ein Auslaufmodell, ebenso die religiös verbrämte Desperado-Mentalität in den USA.
Das Problem bei derartigen Modellen ist, daß die Menschen schnell zu Einzelkämpfern mutieren, nach dem Motto: Ich stehe auf meinen eigenen Füßen und brauche niemanden, um erfolgreich zu sein. Es ist wichtig zu verstehen, daß wir zu allererst einmal auf den Schultern der Gemeinschaft stehen! Ob uns das paßt oder nicht, wir leben immer in Beziehung zueinander, und das ist sicher auch der einzig gangbare Weg, um – ohne im Egotrip zu versanden – zu sich als Individuum zu finden, um bei sich anzukommen.
Zum Glück empfinden das heutzutage viele, vor allem junge Menschen genauso, und deswegen werden momentan auch zahlreiche alternative Ansätze diskutiert. Fest steht, daß die heutigen Probleme auf jeden Fall nicht mit Denkansätzen der Vergangenheit gelöst werden können.
Im Netz wird hierzu passend der interessante Begriff des „Meudalismus“, des „Modernen Feudalismus“ diskutiert. Der Moderne Feudalismus nutzt die Globalisierung und läßt alte geographische Begrenzungen hinter sich. Zeigte sich früher die Macht in zusammenhängenden Ländereien und der Unterwerfung des dort befindlichen „lokalen Lebens“, ballt sich heute der Machtspielraum eines Meudalisten in z.B. hunderten von Mietshäusern oder Unternehmenskonglomeraten mit tausenden oder hunderttausenden Arbeitnehmern. Im Grunde sind doch die alten Eliten nach wie vor am Drücker, oder?
Götz Werner: Das ist im Grunde auch in Ordnung so. Gesellschaftlich haben wir uns schon immer an Eliten, an Pionieren und Visionären orientiert. Die Frage ist nur, wessen Geistes diese Eliten sind, welcher Moral sie folgen! In diesem Fall darf der Gedanke der Gleichheit nicht nur für andere verbindlich sein. „Egalité“ muß universell gelebt werden, also für alle gelten.
Der Grund der Arbeit führt geradewegs zu tiefgreifenden Sinnfragen. Wieso arbeiten wir Ihrer Meinung nach eigentlich?
Götz Werner: Mich hat mal ein Grundschüler bei einer „Weihnachts-Leseaktion“ in der Schule gefragt, seit wann ich eigentlich arbeiten würde. Ich dachte mir, hoppla, wo kommt das denn jetzt her. Ich antwortete mit der Gegenfrage, was denn Arbeit für ihn ist. Wissen Sie, was da wie aus der Pistole geschossen zurückkam? Arbeit ist, was gut bezahlt wird!
Es hat mich verblüfft, so etwas aus dem Mund eines Kindes zu hören. Ich wollte dann wissen, ob er das auch so sieht, wenn Mama oder Papa etwas für ihn machen, wenn sich seine Oma am Wochenende um ihn kümmert, mit ihm spielt oder bei den Hausaufgaben hilft. Ist das dann auch keine Arbeit? Ein Mädchen grätschte ein wenig vorlaut hinein: „Doch, natürlich! Meine Mama erledigt dauernd Dinge für uns, die sie eigentlich gar nicht so gerne macht!“. Da hat sie recht, dachte ich: Windelwechseln, Saubermachen etc. macht man tatsächlich aus einer Notwendigkeit heraus und nicht, weil man sich darin verwirklichen möchte. Arbeit ist also keine Selbstverwirklichung – sie setzt im Gegenteil voraus, daß man etwas für andere macht!
Ein anderer Junge fügte schließlich noch hinzu: „Die Mama macht das, weil sie uns liebt!“. Das trifft es meiner Ansicht nach ziemlich gut! Man liebt seine Arbeit, wenn man einen Sinn darin sieht!
Ein grundlegender Aspekt der Arbeit ist also zum einen die Sinnstiftung: was wir machen, muß sinnvoll sein. Der zweite Angelpunkt ist Wertschätzung! Wenn andere Menschen meine Arbeit wertschätzen, kann ich mich intrinsisch motivieren. Wenn meine Arbeit hingegen nicht wertgeschätzt wird, kann ich nur extrinsisch motiviert werden, sprich: mit Geld, Prämien oder Boni.
Den intrinsischen Ansatz könnte man mit Erich Fromm beantworten, also mit der Liebe zur Arbeit. Die Sinnstiftung würde in Richtung Viktor Frankls logotherapeutischen Ansatz gehen, sprich, in die Schlüsselfrage münden, was der Sinn der Sache ist? Für mich wäre dies auch die Schlüsselfrage für jede gute Unternehmensführung.
Was bedeutet ein sinnhaftes Leben für Sie? Interpretieren Sie das im anthroposophischen Sinne?
Götz Werner: Für mich wird Sinn am deutlichsten sichtbar, wenn ich mir den Unterschied zwischen Mensch und Tier betrachte. Ein Tier ist determiniert, es ist ein reines Reiz-Reaktionswesen. Der Mensch hingegen ist ein Freiheitswesen und ist dadurch sozusagen ergebnisoffen. Wenn wir beide als Giraffen auf die Welt gekommen wären, dann würden wir beide garantiert auch als Giraffen sterben. Als Menschen, die wir beide nun einmal sind, ist jedoch noch völlig offen, als was wir sterben!
Für Viktor Frankl besteht Freiheit in der Möglichkeit, sich zwischen Reiz und Reaktion zu entscheiden. Ein Pferd, das man am Schwanz zieht, wird ausschlagen. Ein Mensch, der provoziert wird, kann sich jedoch anders entscheiden. Die Bibel entgegnet dem tierischen Erbe in uns mit der Aufforderung, auch die andere Wange hinzuhalten, also einem gewalttätigen Reflex mit einer anderen, menschlichen Haltung zu begegnen. Sinnhaft wird ein Leben also, wenn ich mich Kraft meines Willens zwischen Reiz und Reaktion für das Menschliche in mir entscheide und mich dadurch Stück für Stück meiner eigentlichen Natur nähere!
Heute identifizieren wir uns aber eher blind mit Erwerbsarbeit. Sie ist quasi Religionsersatz geworden. Ist der Konsumgesellschaft nicht das geistige Verständnis von Arbeit und damit der Sinn des Daseins abhandengekommen? Und bleibt die „Revolution“ nicht aus, so lange noch Privatsender Soap Operas, Scripted-Reality-Show o.Ä. senden und damit das alte materielle Weltbild Tag um Tag aufs Neue zementieren?
Götz Werner: Ich denke, unser Problem ist die um sich greifende „Denksklerose“, d.h. wir denken nicht mehr selbst und erstarren in unverstandenen, mechanischen Abläufen. Beim Körper führt die Sklerose zum Tod. Sinnbildlich sklerotisieren wir, wenn wir nicht mehr entwicklungsfähig sind, wenn Tun und Denken nicht mehr synchron sind. Eigentlich müssen wir unser Denken aber „verlebendigen“ – und dafür brauchen wir zwingend eine geistige Perspektive!
Das Bedingungslose Grundeinkommen wäre nichts anderes als ein „Werkzeug zur Sinnfindung“, zur Freilegung dieser geistigen Perspektive und damit ein Weg zu einer völlig neuen gesellschaftlichen Befindlichkeit. Die Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kind, zwischen Bürger und Staat – unsere ganzen Beziehungsverhältnisse werden mit dem BGE auf den Kopf gestellt! Plötzlich wäre die Erde keine Scheibe mehr, sondern endlich eine Kugel! Es würden ganz neue Möglichkeiten entstehen, die dann aber auch gestaltet werden müssten. So gesehen, ist das Grundeinkommen eigentlich ziemlich anstrengend, da man als mündiges Wesen plötzlich keine Ausreden mehr ins Feld führen kann!
Wie frei kann ein Mensch, der in einem konsumorientierten System aufwächst denn überhaupt sein? Die Kleinstaaterei in Europa und der Wahnsinn, diese Gemeinschaft für eine neue Form der Isolation abzuschaffen, spricht doch – vor dem Hintergrund zweier Weltkriege – nicht sehr für unsere Erkenntnisfähigkeit.
Götz Werner: In jedem Sumpf, sagt ein Sprichwort, wachsen aber auch Lilien! Deswegen gibt es ja auch immer Widerstandsbewegungen und Pioniere, die inmitten der Erstarrung und des Wahnsinns radikal neue Denkansätze und Visionen formulieren und sich gegen das Denken der Zeit stellen. Selbst im Nationalsozialismus gab es diesen Widerstand, obwohl man bekanntlich für jede abweichende Kleinigkeit ermordet werden konnte.
Die Veränderung kommt aber nie von „unten“, wie oft gesagt wird, sondern immer nur von innen! Was ich träumen kann, kann ich denken. Was ich denken kann, kann ich wollen. Und was ich schließlich will, kann ich auch umsetzen. Wenn Sie das rückwärts aufbauen, dann sehen Sie sofort die Probleme. Denn, wenn ich etwas tue, was ich nicht will, dann habe ich die beste Voraussetzung für einen baldigen Burnout. Wenn ich jedoch etwas will, was ich nicht denken kann, verfalle ich einer Ideologie, und dann wird es brandgefährlich. Denn in dem einen Fall bekommt „nur“ ein Mensch einen Burnout, im anderen Fall kann es Tausende von Tote geben!
Das Schicksal unserer Gesellschaft entscheidet sich an ihren Werten und daran, wie wir die Menschen ansprechen. In Goethes Faust gibt es dazu passend eine wunderbare Stelle. Dort spricht der Schöpfer zu Mephisto: „Nun gut, es sei dir überlassen! Zieh diesen Geist (Faust) von seinem Urquell ab, und führ ihn, kannst du ihn erfassen, auf deinem Wege mit herab. Und steh beschämt, wenn du bekennen mußt: Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewußt.“
Der Philosoph Patrick Spät hat in einem Interview die Sorge zum Ausdruck gebracht, daß das Bedingungslose Grundeinkommen an den gängigen Besitzverhältnissen nichts verändern wird. Der gesellschaftliche Reichtum bleibt weiter im privaten Besitz der Reichen. Es sei davon auszugehen, daß sich das Wirtschaftssystem auf das BGE einstellt, daß also die Preise steigen und der Niedriglohnsektor wächst. Wie sehen Sie das?
Götz Werner: Da fällt mir nur der berühmte Satz ein: „Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin!“ Kann ja sein, daß das so kommt. Die Frage ist nur, ob man dann noch jemanden findet, der einem dabei hilft? Die Menschen, die sich so egoistisch verhalten, erreichen ihre Ziele doch nur, wenn sie es schaffen, andere unter Druck zu setzen. Wenn aufgrund des BGE jedoch niemand mehr erpreßbar ist, wie will man dann noch Abhängigkeiten schaffen und Menschen unter Druck setzen?
Die heutigen Umstände bringen es mit sich, daß wir uns je nach Situation in einem der beiden Aggregatszustände befinden: dem des Konsumenten und dem des Produzenten. Als Konsument bin ich Egoist, da ich die Dinge ausschließlich für mich mache. Als Produzent bin ich hingegen nur erfolgreich, wenn ich Altruist bin, wenn ich also die Fragen beantworten kann, die Sie gerade beim Interview interessieren. Problematisch wird es, wenn ich mich als Konsument altruistisch verhalte und Dinge tue, die mir nicht guttun oder wenn ich mich als Produzent egoistisch verhalte.
Sie haben mit zwei weiteren Autoren ein Buch mit dem martialischen Titel „Sonst knallt’s!“ geschrieben. Der Maßnahmenkatalog darin liest sich wie die Agenda von ATTAC – Kontrolle von Bankern und Börsenhändlern, Einführung einer »Monetativen«, Kappen der Bonis, Abschaffung des Derivatehandels, ein neuer Marshallplan usw. Sie gehen in einem Kapitel sogar davon aus, daß die EU scheitern wird. Wieso schreiben Sie das so provokativ? Das ist doch Wasser auf die Mühlen der Radikalen.
Götz Werner: Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bekenne mich ausdrücklich zu Europa, aber das Fundament der EU ist nicht stabil gebaut. Das kann uns Kopf- und Kragen kosten, wenn wir nicht mit aller Klarheit darauf hinweisen! Der Hintergrund zu dieser heftigen Schlussfolgerung ist aber so einfach, wie einleuchtend. Es war seinerzeit Helmut Kohls Idee, vor der Realisierung einer politischen Union zunächst eine Gemeinschaftswährung zu etablieren. Man wollte dadurch vollendete Tatsachen und Zugzwang schaffen. Ist der Euro erst einmal im Umlauf, so dachte man, kann die politische Union gar nicht mehr verhindert werden – die kommt dann von ganz alleine. Und genau das war der Trugschluß, wie sich heute zeigt!
1992 nach der Wende und kurz vor der Ratifizierung der Maastrichter Verträge hat Helmut Schmidt bei einem Seminar am Tegernsee vor 150 CEOs eine Rede gehalten, zu der ich – wieso auch immer – ebenfalls eingeladen war. Er warb damals mit folgendem Bild für den Euro: Stellen sie sich vor, sie machen eine Europareise und nehmen 1000 Mark mit. Sie fahren nach Italien und tauschen das Geld in Lire um, dann fahren sie nach Frankreich und tauschen das Geld um in Francs, später in Gulden, Franken, Peseten usw. Wenn Sie dann in Deutschland sind, haben Sie allein durch das Wechseln der Währungen nur noch 500 Mark im Geldbeutel … und deshalb benötigen wir den Euro. Das ist aber ein Denkirrtum! Denn wenn Sie eine Gemeinschaftswährung einführen, dann benötigen Sie in einem Ensemble mit wirtschaftlich starken und schwachen Staaten auch einen Länderfinanzausgleich, sonst funktioniert das halt nicht! Obwohl das so offensichtlich war, wollte niemand einen Einwand bringen.
Ich habe später zu einigen der Anwesenden gesagt, daß so etwas ohne einen Länderfinanzausgleich nicht funktionieren kann. Der Rest ist Geschichte. Das Problem ist aber bis dato dasselbe. Man dachte, man schaffe mit der Politik der vollendeten Tatsachen eine politische Union. Doch nichts dergleichen ist geschehen! Das ist der Sprengstoff, der dieses Projekt gefährdet und nicht mein Hinweis. So, wie der Euro momentan gestaltet ist, eint er uns nicht, er trennt uns im Gegenteil Tag für Tag ein Stück mehr, weil wir uns gegenseitig betrügen und manipulieren!
Wie es funktionieren kann, zeigt sich doch beispielsweise in der Familie. Wenn man eine glückliche Ehe führen möchte, muß man mit seiner Frau nicht immer einer Meinung sein, man muß aber dieselben Ziele haben – im Fall der EU z.B., die Ziele der Französischen Revolution. Auch im Unternehmen macht es keiner wie der andere, aber unser Ziel muß dasselbe sein. Viele Wege führen eben nach Rom! Aber über Rom als Ziel müssen wir uns einig sein, sonst kommen wir nie an!