Das grauenhafte Ritual der Frauenbeschneidung fordert täglich 8000 neue, lebenslang gezeichnete Opfer. Rüdiger Nehberg ist engagierter Aktivist für Menschenrechte. In seinem Buch „Karawane der Hoffnung“ trat er – gemeinsam mit seiner Frau Annette Weber – gegen den grausamen Brauch an. Mit Erfolg: Einige Scheichs erklärten diese traditionelle Barbarei inzwischen zur Sünde, ranghohe muslimische Gelehrte versammelten sich zu einer Konferenz der Menschenrechtsorganisation.
Ich habe gerade die „Karawane der Hoffnung“ gelesen. Ein zutiefst bewegendes Buch, bei dem ich eine Menge Taschentücher gebraucht habe!
RÜDIGER NEHBERG: Das ist keine Schande! Mir kommen beim Gedanken an den Brauch auch ständig die Tränen, obwohl ich tagtäglich damit zu tun habe! Für meine Frau Annette und mich ist das Thema wegen des himmelschreienden Unrechts deshalb zum Lebensmittelpunkt geworden. Seit wir gesehen haben, was mit den Mädchen passiert, werden wir keinen Weg scheuen, keine Mühen, bis das Ziel erreicht ist!
Eigentlich haben Sie ja schon alles erreicht, bis auf die Erfüllung Ihres größten Wunsches: die Verkündung der Fatwa (islamischer Rechtsbeschluß) gegen die Frauenverstümmelung in Mekka. Und mittlerweile sollte Ihr Ruf Ihnen doch vorauseilen. Immerhin haben Sie mit den höchsten Islamgelehrten gesprochen, die Verfassung der so wichtigen Fatwa erreicht und mit großem Erfolg etliche Stammeskonferenzen und bedeutende Kongresse bestritten.
RÜDIGER NEHBERG: Trotz aller Erfolge gibt es Türen, die sich bisher leider noch nicht geöffnet haben. Dazu gehört der Weg ins saudische Königshaus! Ein Wort des saudischen Königs an jenem heiligen Ort, und die Frauenverstümmelung wäre schnell beendet. Doch leider kommt man nur sehr schwer an seine Majestät heran. Das ist tragisch, da wir inzwischen alle wichtigen Würden- und Entscheidungsträger hinter uns geschart haben und weil täglich weitere 8000 Mädchen das Verbrechen über sich ergehen lassen müssen. Selbst der als Hardliner geltende und sehr einflußreiche muslimische Religionsgelehrte Scheich Yusuf Abdallah al-Qaradawi, der durch die harsche Kritik an den Mohammed-Karikaturen ein Begriff sein dürfte, hat seine lebenslang vertretene Meinung geändert und diesen Brauch als Teufelswerk verurteilt! Es hat mich besonders beeindruckt, daß ein über 80jähriger den Mut aufbringt, seine Sichtweise zu ändern und sie schließlich sogar im Internet öffentlich zu propagieren! Soviel auch zu den Stimmen, die ständig davon sprechen, „der Islam“ sei nicht dialogfähig!
Was veranlaßte Qaradawi letztlich zum Umdenken in dieser Frage?
RÜDIGER NEHBERG: Er begründete seinen Schritt in der Fatwa damit, daß ihm und seinen Vorfahren das erforderliche medizinische Fachwissen nicht zur Verfügung gestanden habe. Heute weiß er durch Anhörung unserer Fachärzte und Anschauen unseres Filmes, der die pharaonische Prozedur drastisch belegt, was Frauen dabei wirklich zugefügt wird, welcher ungeheure bleibende Schaden ihnen zugefügt wird, während der Mann bei der traditionellen Beschneidung eben keinen Schaden nimmt! Eine meiner Ansicht nach sehr weise Formulierung.
Er spricht wohl die Wurzel des Übels an, denn bisher kannten die Männer keine Details dieser grausamen Tradition, da es sich um eine reine – zudem tabuisierte – Frauenangelegenheit handelt, bei der Männer nicht zugegen sind.
RÜDIGER NEHBERG: Das stimmt. Deshalb war unsere wichtigste Waffe gegen diese schädliche Tradition die Kraft des Korans und die Macht der Bilder! Vor allem der Film bringt jeden Kritiker zum Verstummen. Das war schon in der Al-Azhar so während unserer Internationalen Gelehrtenkonferenz gegen Weibliche Genitalverstümmelung [Anm.: Al-Azhar ist die wichtigste Bildungsinstitution der islamischen Welt]. Viele Delegierte wurden bleich, es herrschte Totenstille. Nach nur eineinhalb Stunden Beratungszeit trat dann der Mufti vor die Kameras und erklärte, daß die Frauenverstümmelung ein „Verbrechen gegen die höchsten Werte des Islams“ sei! Die danach verkündete Fatwa sieht die weibliche Genitalverstümmelung als ein strafbares Verbrechen an! Die Verkündung bedeutet eine neue Seite im Buch der Islamgeschichte. Mehr konnte man nicht erreichen. Doch leider verbreitet sich dieses Verbot nur sehr langsam. Die Menschen, die es betrifft, sind meist Analphabeten, sie haben weder Radio noch einen Fernseher und leben größtenteils in abgelegenen Gebieten der Sahara. Insgesamt wird dieser 5000 Jahre alte Brauch in 35 Ländern praktiziert, es ist also sehr schwer, an all die Menschen heranzukommen. Aus diesem Grund haben wir in Zusammenarbeit mit der Azhar das sogenannte Goldene Buch geschrieben. Dieses in drei Sprachen verfaßte Werk enthält die Azhar-Fatwa, Auszüge aus den Reden der hohen Islamgelehrten und Mediziner, Informationen zu den Folgen weiblicher Genitalverstümmelung sowie Illustrationen für Analphabeten.
Was mich an Ihrem Buch so tief berührt, ist die Hoffnung, die einem entgegenstrahlt! Ich stelle es mir als ein absolut überwältigendes Erlebnis vor mitzuerleben, wie jahrtausendealte Strukturen aufbrechen und Menschen Allah geloben, keinem Mädchen mehr so etwas anzutun! Was Sie in diesen Ländern bewegen, ist großartig!
RÜDIGER NEHBERG: Die Hoffnung, die sich in den Augen der Frauen widerspiegelt, gibt uns eine enorme Kraft! Ich kann mir kein Hindernis vorstellen, das uns ausbremsen könnte. Immer wieder werden wir gefragt, wie wir als Fremde und Nichtpolitiker es geschafft hätten, all diese Gelehrten an einen Tisch zu bekommen. Natürlich ist das nicht leicht, sonst wären wir längst am Ziel angelangt, und das wäre das weltweite Ende des Brauches. Denn grundsätzlich mißtraut man Fremden. Das ist in Afrika noch ausgeprägter als in Deutschland. Diese Hürde überwinden wir mit Höflichkeit, mit Demut und vor allem mit Respekt vor ihrer Kultur, so wie ich das auf meinen früheren Reisen im Orient selbst erfahren habe. Die hohe Ethik islamischer Gastfreundschaft hat mich nachhaltig geprägt. Zweimal haben mir meine Gastgeber bei bewaffneten Überfällen mit ihren Körpern als lebende Schilde das Leben gerettet. So etwas verpflichtet. Selbst während meines „Gastspiels“ in jordanischen Gefängnissen habe ich nur positive Erfahrungen gemacht.
Wieso sind Sie ins Gefängnis gekommen?
RÜDIGER NEHBERG: Weil ich es verdient hatte! Ich habe mir damals in meinem Abenteuerfieber ein Boot „geliehen“, um damit über das Rote Meer nach Ägypten zu kommen! Ich wurde geschnappt, und es kam zur Gerichtsverhandlung. Üblicherweise stand damals in Jordanien auf Diebstahl ein Jahr Freiheitsentzug. Ich habe dem Richter aber erzählt, daß mein Vater mit Rommel gegen die Engländer gekämpft hat – dafür gab es 50 Prozent Rabatt auf die Strafe! Als ich noch erzählte, daß er in der Schlacht verwundet und von Beduinen wieder gesundgepflegt wurde, bekam ich noch einmal zwei Monate abgezogen. Ich erklärte dem Richter schließlich, daß mich diese hohe Gastfreundschaft, die mein Vater damals erfahren durfte, neugierig gemacht hätte auf den Islam. „Die Erwartung wollen wir nicht enttäuschen.“ Machte weitere zwei Monate Nachlaß. Deshalb, sagte ich, schäme ich mich auch dafür, daß ich das Boot unbefugt genutzt habe. Tatsächlich sollte ein Freund das Boot wieder zurückbringen. Wir waren zu dritt. Doch den Strafbestand „Unbefugtes Benutzen“ gab es eben nicht! Diebstahl ist Diebstahl, und deshalb wurden wir verurteilt, allerdings erhielten wir nach Abzug allen Rabatts anstatt zwölf nur zwei Monate Haft! Nach der Entlassung bat der Gefängnisdirektor uns inständig, weiterhin als seine Privatgäste zu bleiben. Das haben wir dann auf zwei Tage beschränkt.
Wie überzeugen Sie die Menschen, vom Brauch der Frauenverstümmelung abzulassen?
RÜDIGER NEHBERG: Ich erkläre ihnen, warum die Tradition der Frauenbeschneidung sich nicht mit dem Koran vereinbaren läßt, daß sie den Islam damit sogar beleidigen und Gottesanmaßung begehen, wenn sie Seine Schöpfung Frau in dieser schmählichen Weise verändern und schänden. Für mich ist dieses Verbrechen der größte Bürgerkrieg aller Zeiten: die Gesellschaft gegen die Frauen, seit 5000 Jahren, mit täglich 8000 neuen, lebenslang gezeichneten Opfern!
Ich habe gelesen, daß ein Drittel der Frauen bei der Beschneidung sogar stirbt.
RÜDIGER NEHBERG: Das ist eine Zahl der UNO. Sie gilt für die Pharaonische Verstümmelung. Ich halte die Zahl für glaubwürdig, nachdem ich gesehen habe, wie das Ritual abläuft … wenn alte Frauen, oft schon ohne ihre volle Sehkraft, in dunklen Hütten mit schartigen Messern, Dosendeckeln, Rasierklingen oder Glasscherben hantieren, ohne Kenntnis von Anatomie, Hygiene, ohne Mitleid und Betäubung. Die Wundränder werden mit Akaziendornen „zusammengetackert“; um eine letzte Öffnung zu sichern, wird ein Strohhalm hineingesteckt.
Urinieren dauert nun eine halbe Stunde, Menstruieren zwei Wochen. Niemand darf über die Operation sprechen, absolutes Schweigegebot. Und damit ist das Leiden nicht etwa beendet. Wenn die Mädchen heiraten, müssen sie wieder geöffnet werden. Nur eine „Beschnittene“ ist eine ehrbare Frau. Nur ihr traut man zu, treu sein zu können. Ohne diesen Eingriff haben die Frauen gar keine Chance, einen Ehemann zu finden.
Was hat sie konkret veranlaßt, die Organisation TARGET zu gründen?
RÜDIGER NEHBERG: Wir haben TARGET deshalb gegründet, weil wir mit unserer Strategie, mit dem Islam als Partner den Brauch zu beenden, ihn zur Sünde erklären zu lassen, nur auf Unverständnis und Hohn stießen. Vor allem hieß es, der Islam sei gar nicht dialogfähig. So reden Schreibtischtäter, die nie vor Ort waren, die nie erlebt haben, wie Menschen auf Karawanenwegen die letzte Dattel, den letzten Tropfen Wasser mit einem teilen! Und weil ich genau das aber am eigenen Leib erfahren habe, ließ ich mich von diesen zeitgeistkonformen Gutmenschen nicht entmutigen! Letztlich waren es Greenpeace und Amnesty International, die mir rieten, eine eigene Menschenrechtsorganisation zu gründen, um unabhängig zu bleiben von solchen Berufsbedenkenträgern. Das war der beste Rat seit Jahren.
Wie ging es dann weiter?
RÜDIGER NEHBERG: Mir war durch mein Engagement für die Yanomami-Indianer im Amazonas klar, wie wichtig gute Bilddokumente sind, um die Entscheidungsträger damit zu konfrontieren. Unsere Zielgruppe war aber nicht der kleine Imam einer kleinen Moschee, sondern die höchsten Würdenträger des Islam. Das ist uns gelungen.
Gab es im Islam Widerstand gegen die Ziele von TARGET?
RÜDIGER NEHBERG: Null! Bisher haben wir noch keinen einzigen wirklichen Gegner getroffen. Nur Offenheit, Kooperation und offene Arme.
Themenwechsel. Sie sind auch durch Ihre Abenteuer an fernen Orten bekannt. Welche Beziehung haben Sie zum Begriff „Heimat“?
RÜDIGER NEHBERG: Heimat ist für mich ein ganz wichtiger und fester Bestandteil meines Lebens! Ich komme von meinen Reisen stets mit großer Sehnsucht nach Hause zurück, weil ich in der Demokratie Deutschland oder Europa Werte erfahre, die mir sehr wichtig sind! Pressefreiheit, Meinungsrecht, Selbstverwirklichung, das sind ja Werte, die man in vielen Ländern gar nicht kennt. Wenn ich auf mein Grundstück heruntersehe und den Regen beobachte, mir einen Fisch fangen oder einen Kaffee kochen kann, dann bin ich mir durchaus bewußt, wieviel Glück ich habe. Durch dieses Privileg fühle ich mich aber auch verpflichtet. Deswegen gebe ich einen Teil meines Geldes, meiner Lebenszeit und meines Engagements für diejenigen ab, die sich nicht selbst aus menschenunwürdigen Lagen befreien können. Manchmal bedarf es der Hilfe von Freunden aus dem Ausland. So wie uns die Alliierten vom Naziterror befreit haben.
Wie gehen Sie als Energiebündel mit dem Altwerden um?
RÜDIGER NEHBERG: Gelassen. Es ist ein Gesetz der Natur, das alle Lebewesen trifft. Nur daß der Mensch weiß, daß es auf ihn zukommt. Doch es naht ja allmählich, man bemerkt es anfangs kaum. Irgendwann funktionieren manche Dinge eben nicht mehr so, wie man sie gewöhnt ist. Die Hoffnung, beim Altwerden zu den Glücklichen zu gehören, die bis zuletzt gesund bleiben, kann ich schon mal vorab begraben. Ich mußte lernen, mich der Restkraft anzupassen, einen Schritt langsamer zu gehen, eine längere Pause einzulegen, eine Tablette zu schlucken. Vieles von dem, was mir rausoperiert worden ist, habe ich in einem Glas mit Alkohol gesammelt. Es ist schon verdammt voll.
Es ist aber ein Lebensabschnitt, der auch etwas für sich hat, oder?
RÜDIGER NEHBERG: Notgedrungen. Man hat einen größeren Erfahrungsschatz, der durchaus hilfreich sein kann. Und letztlich ist der Tod gerecht. Er trifft Arm und Reich, Aktivisten und Sesselpupser. Bald bin ich an der Reihe. Was ich jedoch vorher noch erleben möchte, ist die Realisierung meiner „Vision Mekka“. Dann habe ich in meinem Dasein nicht nur Staub aufgewirbelt, sondern eine Spur hinterlassen und kann sagen: Das war eine klasse Arbeit! Das Leben hat sich gelohnt!
Viel Erfolg bei Ihrer so wichtigen Arbeit!