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Wie man Steine zum Sprechen bringt

Patriarchales Standesdenken, das Fehlen der Väter in der Erziehung, der Einsatz von Gewalt als legitimes „didaktisches“ Mittel, und die daraus sich entwickelnde mangelnde Emanzipation der Kinder ­– der Soziologe und Psychologe Kazım Erdoğan kennt aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit in den Brennpunktvierteln Berlins die Probleme, die aus der Kommunikations- und Sprachlosigkeit seiner vor allem männlichen Landsleute entstehen. Nachdem die Zahl der Ehrenmorde in Berlin stark stieg, gründet Erdoğan 2007 kurzentschlossen eine mittlerweile bundesweit stattfindende Gesprächsrundeninitiative speziell für türkische Männer. In den Treffen sondieren die Teilnehmer zwar handfeste Ängste und Alltagsprobleme, in Wirklichkeit kreisen die Gedanken im Grunde aber immer um die Frage, wie man jenseits gesellschaftlich anerzogener Leitbilder und kultureller Automatismen zu einer authentischen und empathiefähigen Identität gelangen kann.

 

Die Auftaktveranstaltung der sog. „Väterrunde“ 2018 in Heilbronn wird mir persönlich lange in Erinnerung bleiben. An diesem kalten Februarabend wollte ich zu Anlass der Gründung der Gesprächsgruppe in unserer Stadt den Vortrag des Berliner Psychologen und Soziologen Kazım Erdoğan im Heinrich-Fries-Haus besuchen. Die beeindruckende und mittlerweile bei Youtube zu findende ARTE-Doku „Halbmondwahrheiten“ über die landesweit etablierten Gesprächsrunden und die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes für die Integrationsarbeit des knapp 70-jährigen sollten, so dachte ich, nicht nur mir als Journalisten genug Anreiz zum Besuch der Veranstaltung bieten, sondern auch meinen Vater ansprechen, und da er sich damals zufälligerweise gerade einmal nicht in seinem Rentendomizil in der Türkei, sondern für den obligatorischen Winterbesuch in Deutschland befand, überredete ich ihn mitzukommen – eine Entscheidung, die uns beide nachhaltig beeinflussen sollte.

Was mir an dem Abend bereits im Foyer des Vortragssaals und später im Jahr auch bei meinen beiden Besuchen der stets donnerstags in einem Anbau des Kunst- und Kulturzentrums „Zigarre“ stattfindenden Gesprächsrunde auffiel, war das üppige Buffet mit Getränken und handgemachten Spezialitäten. Denn obwohl diese Runde sich ja an türkische Männer richtet, wurde das kulinarische Rahmenprogramm zum Großteil von türkischen Frauen erbracht. Mit viel Herzblut und ohne viele Worte verdeutlichten sie damit sehr fein, wie wichtig ihnen ein Projekt zu sein scheint, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den dringend notwendigen Wandel tradierter Selbstbilder hin zu einem auf humanistischen Idealen basierenden Miteinander zu kultivieren. Vor dem Hintergrund solch eines emanzipatorischen Ansatzes verwundert es dann auch wenig, dass die zweistündigen Treffen stets von einem Moderatorengespann geleitet werden, das aus je einem Mann und einer Frau, also einem männlichen und weiblichen Blickwinkel besteht.


Patriarchale Weltbilder, autoritäre Erziehung

Wie wohl bei unzähligen Vorträgen zuvor veranschaulichte Herr Erdoğan auch an diesem Abend anhand vieler eindrücklicher Fallbeispiele aus seiner Zeit als Lehrer, Schulpsychologe und Mitarbeiter des psychosozialen Dienstes im Bezirksamt Neukölln unter welchen Umständen Gewalt und Ohnmacht speziell in Migrationsbiographien entstehen können und wie essenziell für ihn hierbei die befreiende Rolle der Kommunikation ist. Das Ausdrücken echter Befindlichkeiten, das Anvertrauen von Ängsten, das unsichere Hinterfragen von Männerrollen – zu Beginn seiner beruflichen Karriere waren derartige Gespräche in dem von ihm dargebotenen therapeutischen Rahmen im Berliner Beamtenzimmer Mangelware. Aus diesem kommunikativen Defizit der Anfangsjahre heraus formulierte der Seelsorger damals des Öfteren ein wenig frustriert das anatolische Sprichwort, dass man eher einen Stein zum Sprechen bekommt, als einen türkischen Mann! Doch Erdoğan sollte sich, wie er heute reuig zugibt, täuschen, und zwar gewaltig! Alles änderte sich nämlich, als er, aufgepeitscht durch eine starke Zunahme von grausamen Ehrenmorden in Berlin, sein Amtszimmer verließ und eine ehrenamtliche Gesprächsrunde aufbaute. Hier sollten seine Landsleute aus dem Berliner Kiez lernen zu kommunizieren, Kritik auszuhalten, ihr wahres, durch Gehorsam und Loyalität verstummtes Ich zu erkunden, einfach indem sie ihre Gedanken und affirmativen Glaubenssätze in einem geschützten Rahmen und vor allem in ihrer Muttersprache zum Ausdruck brachten. Irgendwann erlebte Erdoğan dann, wie offen diese Menschen sein konnten, welche Schätze jenseits „fremdbespielter Seelen“ ruhten, wenn der Rahmen stimmte. Männer jeden Alters begannen – für türkische Verhältnisse – ungewöhnliche Fragen zu stellen, sie erzählten ihre Geschichten, zeigten sich stark, weil sie ihre Verletzungen und damit ihre Gefühle endlich einmal nicht aussparten. „Ich wollte vor allem die ‚Patriarchen‘ erreichen, die männlichen Familienchefs. Sie haben nie gelernt, wie sie kommunizieren sollen und weil aufgrund dessen die Scham schwer wiegt, verdrängen sie ihre Probleme und gehen zum Beten in die Moschee oder ins Männercafé zum Spielen.“

Kommunikationsarmut ist auch eine stille Form von Gewalt

Erdoğan verdeutlichte das kommunikative Grundproblem an dem Abend durch die Schilderung einer erschütternden Begegnung mit einem türkischen Patriarchen und dessen im Schlepptau befindlichen Sohn, die ihn vor einigen Jahren in seiner Dienststelle aufsuchten. Obwohl der Sohn selbst schon Kinder hatte, so der Psychologe, behandelte ihn das greise Oberhaupt während der Sitzung wie einen kleinen, dummen Jungen, dem es verboten war das Wort zu ergreifen. Als er an einer Stelle des Gesprächs dann doch einmal schüchtern seine Gefühlslage anbringen wollte, herrschte ihn der Alte an, er solle sein „Maul“ halten, wenn er redet, schließlich sei er das Familienoberhaupt!
Irgendwo im Herzen dieses Mannes, dachte ich nach einer Spanne betretenem Nachdenkens, musste mit großer Sicherheit eine tief empfundene Liebe zu seinem Sohn vergraben liegen, doch gelangte er durch einen Wust an anonym aus dem Off rufenden „Regieanweisungen“ offensichtlich nicht mehr an seine ureigenen Empfindungen heran. Was ihn in der eigenen Innenwelt nach und nach zum Zaungast werden ließ und später im Erwachsendasein zu jenen fremdbestimmt wirkenden Handlungen und lieblosen Worten treiben soll, scheint einem still in ihm wirkenden Sammelsurium an väterlichen Regeln und Moralvorstellungen zu entspringen, das durch eine repressive Erziehung irgendwann zur okkupierten Stimme seines Gewissens mutierte.

Der deutsch-schweizerischer Psychoanalytiker Arno Gruen bringt derartige Entfremdungsmechanismen und die dazugehörigen gesellschaftlichen Folgen in dem beeindruckenden Buch „Der Fremde in uns“ mit folgenden Worten treffend auf den Punkt: „Was bleibt für [die Entwicklung der Identität], wenn all das, was dem Menschen eigen ist und ihn als Individuum ausmacht, verworfen und zum Fremden gemacht wird? Dann reduziert sich Identität auf die Anpassung an äußere Umstände, welche das seelische Überleben des Kindes sichert: Es tut alles, um den Erwartungen der Mutter und des Vaters gerecht zu werden. Kern dieses Prozesses ist die Identifizierung mit den Eltern. Das Eigene des Kindes wird durch das Fremde der Eltern ersetzt. Eine Identität, die sich auf diese Weise entwickelt, orientiert sich nicht an eigenen inneren Prozessen, sondern am Willen einer Autorität. … Das Ergebnis sind Menschen ohne eigene Identität, die jedoch in dem Glauben leben, eine solche Identität zu besitzen, weil sie Gehorsam mit freien Entscheidungen verwechseln.“

Folgt man Gruens Gedanken, so ist der Zweck autoritärer Erziehung im Grunde die Etablierung einer institutionellen „(Un-)Persönlichkeit“, eines patriarchalen Klons, der mit Hilfe anerzogener und streng abgesteckter Denkmuster tradierte Werte weiterreichen und konservieren soll. Auf diese Weise wird jedoch auch zwangsläufig eine hierarchische, auf Abhängigkeit und Zwang basierende Beziehung in der Familie etabliert, die vor allem den natürlichen Autonomiebestrebungen eines heranreifenden Kindes entgegenläuft und … auch die Eltern Stück für Stück in ihrem Rollenverhalten vereinsamen lässt! Derart fremdbestimmte Kinder schaffen es später als Erwachsene nur schlecht, sich vom Zwang zu lösen, die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen und dafür eigene Bedürfnisse und Vorstellungen einzusetzen. Wenn nun aber Wünsche, Sehnsüchte und Erwartungen nie umgesetzt werden und dafür Enttäuschungen an der Tagesordnung sind, so muss das letztlich äußerst negative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die Frustrationstoleranz eines Heranwachsenden haben!

Autoritäre Erziehung als Sicherungssystem der Familie?

Der damals vor ihm sitzende Patriarch, so Erdoğan im Anschluss an die Anekdote, stammte, wie die Mehrheit der „Gastarbeiter“ der ersten Generation, aus einer strukturschwachen Region der Türkei, einer Gegend also, in der die Menschen auch heute noch meist in ärmlichen Verhältnissen leben. Die Denkweisen derart geprägter Biographien basieren, auch lange nach Migration und Etablierung in besseren Verhältnissen, auf Lebensumständen, die nichts mit der z.B. deutschen Lebenswirklichkeit in der Jetztzeit zu tun haben, sondern viel mehr mit der prekären Realität in den Heimatdörfern der Auswanderer, just zu der Zeit, als sie die Reise in die Ferne angetreten haben. So gesehen, geben also Vorstellungen, die aus der Vergangenheit einwirken, das Denkmögliche der zukünftigen Biographie vor. Der Kampf um das tägliche Auskommen und der damit verbundene Mangel an weiterführenden Impulsen, so scheint es, presst Menschen hierbei fast zwangsläufig in „altbewährte“ autoritäre Gesellschaftsstrukturen. Patriarchale Befehlsketten, Uniformität, Kontrollzwang, der hohe Stellenwert von Arbeit und Ordnung, Machtausübung in Form von Strafen, Folgsamkeit anstelle von Autonomie, vor allem aber die Unterdrückung subjektiver Empfindungen, all das soll vermutlich das Überleben der Familie sicherstellen, in dem es die „Störanfälligkeit“ individueller Sichtweisen massiv einschränkt und dadurch, so der Wunsch, das Leben der Familie in Zeiten der Not kalkulierbarer, sicherer macht.
Wer bei dem Stichwort autoritäre Väterherrschaft allerdings nur an „unkultivierte“ Stammeskulturen denkt, verkennt die soziologische Dimension eines Problems, das mit Armut, im Kern aber viel eher mit globaler Verteilungsgerechtigkeit zu tun hat. Bis weit in die 1960er-Jahre befürwortete beispielsweise über die Hälfte der Deutschen körperliche Züchtigung, autoritäre Erziehung war in Europa zu dieser Zeit Mainstream. Laut einem Analyseblatt der Konrad-Adenauer-Stiftung war der Grund hierfür klar: „Der wirtschaftliche Überlebenskampf, die Ideologieverdrossenheit, die prekäre soziale und wirtschaftliche Situation der Frauen ermöglichten keinen Raum für Experimente. Altbewährtes garantierte Sicherheit.“. In einer Welt, in der nun aufgrund prekärer Verhältnisse fast 3,4 Milliarden Weltbürger mit knapp 2,80 Euro pro Tag auskommen müssen, in der jeder Zehnte nicht Lesen und Schreiben kann und 70% schlecht oder unterernährt sind, muss so gesehen klar sein, dass Angst, Vorurteil, Aberglauben und damit in Folge auch die aus solchen Gefühlslagen entstehende autoritäre Haltung als prägendes Moment der Sozialisierung noch lange bestehen bleiben wird – inklusive aller weltweiten Folgen. Oder anders ausgedrückt: Die Schere zwischen Arm und Reich – ob nun Erst- oder Drittweltland – und die damit verbundenen Ausbeutungsverhältnisse, Ausgrenzungs- und Unterdrückungserfahrungen erzeugen seit jeher Existenzängste, die einer längst überfälligen zwischenmenschlichen Evolution massiv im Wege stehen!

Gewaltfördernden Indikatoren

Das Gros der türkischen Männer wächst aufgrund dieser soziokulturellen Verhältnisse in ihrem Land meist automatisch in die althergebrachte Rolle des Beschützers und Ernährers hinein; die Armutsmigration verstärkt die geschlechterspezifische Rollenverteilung dabei meist noch. Gerade in der Fremde setzt auch heute noch eine Exilgeneration nach der anderen auf die immer selben Identifikationsmuster und damit auch stets auf die altbekannten Erziehungsmethoden der Altvorderen. Die Konservierung eines archaischen Lebensstils kann in einer pluralistischen Gesellschaft wie der deutschen mit ihren für den autoritären Traditionalisten „identitätsgefährdenden Einflüssen“ allerdings nur in einer parallelgesellschaftlichen Nische funktionieren, in der man die eigene „Privatmoral“ leben kann. In der Community mutieren die sich gleichenden Sichtweisen und Moralvorstellungen der Väter dadurch zur normativen Richtschnur an der sich die Familienmitglieder zu orientieren haben. Was also in der Ethik, wie beispielsweise im Kategorischen Imperativ als Gesetz für alle dekliniert und der Freiheit entgegen „universalisiert“ wird, verengt sich im patriarchalen System auf das Gutdünken des Alpha-Mannes und damit auf den Erfahrungshorizont eines einzigen Menschen! Kulminieren jedoch alle Gewalten in einer Institution, etablieren sich gesellschaftlich auch stets die gleichen „Unrechtsprinzipien“. Am Ende steht der Mann über der Frau, der Starke über dem Schwachen, der Ältere über dem Jüngeren und der Gläubige – was immer das auch heißen mag – über dem „Ungläubigen“.

Migrantische Entfremdungsangst*

Überall, wo Menschen ihren vertrauten Rahmen verlassen, gerät mit dem Wegfall der Erfahrungen, die an spezielle räumliche Orientierungspunkte verknüpft sind, auch ein Teil der inneren Ordnung, der eigenen Identität ins Wanken. Wer ist man, wenn der Raum, die Menschen und die vielen darin gespeicherten Erlebnisse plötzlich nicht mehr für einen sprechen, wenn man nicht mehr weiß, wo man satt wird oder Schutz finden kann? Religion und Tradition können hier, um den Preis eines restriktiven, holzschnittartig vorgefassten Lebensentwurfs, schnell identitätsstiftend wirken, wenngleich eine derartige Prägung durch die voll im Gang befindliche Atomisierung gemeinsamer und verbindender Wert- und Weltvorstellungen heutzutage mehr Probleme als Lösungen mit sich bringt. Etwas anders stellt sich die Situation dar, wenn Menschen es gelernt haben sich in einer Sprache zu unterhalten, die ein höheres Abstraktions- oder „Auflösungsvermögen“ voraussetzt. Auch Musiker, Akademiker, Künstler oder Literaten verlassen ihre Heimat sicher nicht ohne emotionale „Schmerzen“, es scheint aber, dass sie sich schneller, besser zurechtfinden und zwar, weil sie in der Ferne rasch auf weit universellerem Grund Fuß fassen. Beobachten und diskursives Schlussfolgern, Zweifeln und angstfreies Infragestellen, der forschende Blick auf unser geistiges Erbe aber auch schlicht die Weisheit, Weite und Güte einer ethisch geprägten Erziehung, all das also, was wahrhafte Bildung vermittelt, führt dazu, dass Menschen Begriffe oftmals weitreichender erfassen! Daraus entstehen neue Gestaltungsmöglichkeiten, Resilienzen gegenüber familiären Sackgassen, fatalistischem Denken, sie bringt Kreativität in die Tristes eines dynastischen Einheitsbreies. Bestes Beispiel hierfür ist Kazim Erdoğan selbst, der stets in einer Mischung aus Dankbarkeit und Stolz betont, dass er trotz der großen Armut, in der er aufwuchs, viel Glück mit seinem Elternhaus hatte. „Ich bin in meiner Kindheit nie angeschrien, nie verbal attackiert oder geschlagen worden. Das hat mich geprägt! Meine Eltern legten zudem, obwohl sie selbst Analphabeten waren, großen Wert auf Bildung.

Zerrissenheit und Ohnmachtsgefühle

Als Erdoğan 2007 die deutschlandweit erste Selbsthilfegruppe für türkischstämmige Männer gründet, stellt sich im Laufe der Jahre nach und nach heraus, dass fast alle Teilnehmer Gewalt in ihrer Sozialisation erlebt haben, verbale oder handfeste. Derlei Erfahrungen fließen später wieder in die Erziehung der eigenen Kinder mit ein, wodurch ein generationsübergreifender Teufelskreis autoritärer Erziehung sich ständig aufs Neue schließt. Das Ergebnis sind Männer, die durch die scharf zuwiderlaufenden Impulse und Vorstellungen ab der Adoleszenz Gefahr laufen, sich und ihrem Umfeld zu schaden. Mit dem unterdrückten Drang nach individueller Verwirklichung einerseits und den immensen Anpassungsforderungen der elterlichen aber auch deutschen Kultur andererseits, stehen sich ambivalente Denkweisen und unverstandene Handlungsimpulse gegenüber, die enormen Stress erzeugen und eine stabile Identitätsbildung behindern. Je fremdbestimmter vor diesem Hintergrund die Lebensumstände werden, desto unbeherrschbarer bahnen sich auch Aggression und Gewalt ihren Weg. Autoritär erzogene Männer scheinen hierbei deutlich anfälliger für Frustration zu sein. Sie neigen zur Abwehr ihrer Ängste tendenziell stärker zu Wahrnehmungsverzerrungen und aggressiven Reaktionen, sowie zu einem erhöhten Kontrollbedürfnis gegenüber ihrer Umwelt. Geraten diese Männer in kulturelle Widersprüche, kann das eng begrenzte Repertoire an möglichen Konfliktlösungsstrategien, die eine durch Regeln geprägte „Scheinidentität“ anzubieten hat, schnell zu Problemen führen.

Schau‘ mir ja nicht in die Augen, Kleiner!

Der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak beschäftigt sich in vielen seiner im Netz zu findenden Aufsätzen mit derlei kulturellen Bruchzonen, die muslimische Jugendliche in moralische Nöte treiben. Autoritär erzogene Kinder, so schreibt Toprak beispielsweise in einer Expertise, senken als Zeichen der Unterwürfigkeit und des Gehorsams gegenüber ihren Eltern oftmals den Blick. Ein direkter Augenkontakt würde „gleiche Augenhöhe“ bedeuten und von den Eltern als Aufsässigkeit und Herausforderung interpretiert werden. Wenn derart sozialisierte Jugendliche dann aber auf der Straße aus welchem Grund auch immer etwas länger angesehen werden, kann das als Anmache oder Herausforderung aufgefasst werden, auf die man reagieren muss, will man kein Schwächling sein. Die oftmals eingeschränkten verbalen Fähigkeiten bei türkischen Männern mit Migrationshintergrund wirken sich laut Toprak ebenfalls gewaltverstärkend aus, beispielsweise beim einseitigen Wahrnehmen aggressiver Aspekte in ambivalenten Botschaften.

Auch der Begriff der Ehre und die damit in Verbindung stehenden Reizthemen Kopftuch, Zwangsheirat und – natürlich – Ehrenmord sind eng mit derartig anerzogenen Rollenverhalten verbunden. Laut Toprak hängt die Ehre eines Mannes in erster Linie vom Verhalten seiner Frau ab. Sie impliziert, so Toprak weiter, dass die Männer die Sexualität ihrer Ehefrauen, Töchter und Schwestern kontrollieren und dass Männer Ehre besitzen, wenn ihre Kontrolle sozial anerkannt und gerechtfertigt ist. Dreh- und Angelpunkt der Güte eines Mannes wird demnach paradoxerweise gerade die weibliche Sexualmoral und damit verknüpft die konkrete Forderung, dass die Schwester, Tochter oder Verlobte bis zur Hochzeit jungfräulich bleiben muss. Frauen tun also gut daran schnell zu begreifen, dass die physische Unversehrtheit eines unbedeutenden Gewebehäutchens ihre gesamte moralische Integrität dominieren wird! Bei Männern hingegen ist es „kein großes Ding“, wenn sie ihre Hörner bei einer „ungläubigen Deutschen“ abstoßen. Wenn sich das „verrückte Blut“, wie die Halbstarken in der Türkei fast honorig genannt werden, dann schließlich abreagiert hat, wird der bislang Ungebändigte mit einer noch sauberen „Import-Jungfrau“ aus der Türkei wieder in ruhigere Bahnen gelenkt.

„Menschen geben das weiter, was sie gelernt und erlebt haben“

Derartige Modelle gehen in einer globalisierten Welt, in der die Gleichberechtigung der Frau zur Tatsache geworden ist, für den Patriarchen in spe allerdings immer seltener auf, mahnt Erdoğan, vor allem, wenn die Frauen in Ländern leben, in denen sie durch Gesetze geschützt werden und nicht wie in der Türkei als Kavaliersdelikt verharmlost oftmals unter die Räder kommen. Erdoğan begegnet in seinen Runden vor diesem Hintergrund oftmals Teilnehmern, die perspektivlos, verzweifelt, wütend sind, weil sie, ohne dass sie in ihrer Sozialisation dafür „trainiert“ worden wären­, z.B. eine Trennung verkraften müssen oder im Zuge der Scheidung, ihre Kinder nicht mehr sehen dürfen. Er berichtet auch von dem mittlerweile großen Problem der „Importbräutigame“, die aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und großer Mentalitätsdifferenzen, arbeits- und mittellos dastehen und auf einmal von ihren in Deutschland aufgewachsenen Ehefrauen ausgehalten werden müssen, Taschengeld inklusive! „Ohne mich könntest Du Dir nicht mal eine Unterhose kaufen!“ sind dann Spitzen, die die gedanklichen Sicherungen solch eines Mannes vor eine harte Probe stellen. Viele Männer geraten aufgrund derlei Despektierlichkeit gegenüber ihrem männlichen Selbstverständnis in eine unheilvolle Identitätskrise, können depressiv, spielsüchtig, alkoholkrank und am Ende einer dunklen Reise auch gewalttätig werden. Je nach Temperament des Mannes münden derlei Konstellationen vereinzelt auch in eine tödliche Katastrophe. Erdoğan hat in den vergangenen Jahren knapp ein Dutzend Männer im Gefängnis betreut, die als Importbräutigame aus der Türkei nach Deutschland kamen und schließlich ihre Frau umgebracht haben. Viele dieser Beziehungstäter bekunden nach etlichen Gesprächen mit Kazim Erdoğan unter Tränen: Hätte ich damals eine Vätergruppe gehabt, meine Frau wäre heute noch am Leben!

Was ist Ehre?

Viele Männer tragen den Begriff der Ehre in ihrer Hosentasche herum und holen ihn bei Bedarf mehrmals am Tag heraus“, so Erdoğan. Gerade weil sich der Ehrbegriff einer vernünftigen Erklärung entzieht, also alles zu jedem Zeitpunkt sein kann, hat sie eine unheimliche Wirkkraft. Sie schafft es, trotz eines begangenen Unrechts wie Gewalt oder gar Mord, einen sicheren Gefühlsraum trotziger Rechtschaffenheit zu erzeugen. In seiner Väterrunde thematisierte Kazim Erdoğan vor Jahren diesen Begriff, in dem er die Anwesenden darum bat, aufzuschreiben, was Ehre für sie bedeutet – die Zettel kamen alle leer zurück! In der darauffolgenden Diskussion wagten sich die Männer dann an eine Begriffsklärung. „Als Mann hast du eine Ehre, die du schützen musst. Deine Ehre ist nur soviel Wert, wie die Ehre deiner Tochter, deiner Mutter.“ Erdoğans Frage, wieso dieser Begriff ausgerechnet für Männer so wichtig sei, führte irgendwann in der Diskussion zu der verblüffenden Erkenntnis, dass man es im Grunde eigentlich gar nicht weiß! Das macht Erdoğans Arbeit so wertvoll, er schafft einen geschützten Rahmen, der zum Nachdenken anregt und versucht die unheilvolle Stille und Undifferenziertheit, die in der Innenwelt der Teilnehmer oftmals herrscht in gemeinsamer Arbeit zu füllen. Am Ende ist es nicht die Frage, warum ein Mann „Ehre hat“, sondern natürlich die Frage, wie ein Mensch sich zu betragen hat, wenn er als ehrhaft tituliert werden soll. Die Antworten sind mit einer ethischen Haltung betrachtet dann auch intuitiv zu beantworten: er ist solidarisch, er lügt nicht, er klaut nicht, er hilft den Schwächeren, er schaut nicht weg … Kazim Erdoğan weiß; heute würde kein Teilnehmer den Begriff Ehre wie damals benutzen!

 „Ich will, dass die Männer Rollenbilder und eingefahrene Denkweisen hinterfragen.“

Sprachlosigkeit und Ohnmacht allenthalben, doch wenn man diese Mechanismen öffentlich in der Community anspricht, so Erdoğan, fühlen sich viele Türken beleidigt, wähnen gar ihr Türkentum von einem Landsmann verraten. Wir müssen aber, das entgegnet der Psychologe bei derlei Vorwürfen resolut, sprechen, zuhören, uns transformieren, anders versteht man das Leid, das viele türkische Migranten hier auch in guten Zeiten permanent zu quälen scheint niemals! Die Wahl liegt also zwischen zäher Identitätsarbeit, wie sie Erdoğan in seinen Männerrunden vorantreibt oder einem Weiter-so in Dunstkreis kollektiv gepflegter Psychosen, die sich aus einem eigentümlich tradierten Weltbild rekrutieren. Gerade für autoritär erzogene Männer gilt es, die gottgleich angelegte Stimme des Patriarchen, die im Stammhalter anonym nachhallt, verstehen zu lernen, da sie sonst zur despotischen Forderung wird, der ein Mann Zeit seines Lebens uneinholbar hinterherrennt. An diesem vermeintlichen „Gewissen“ wird er sich leidvoll abarbeiten, wenn er den spätestens in der Pubertät fälligen Konflikt mit den Eltern zum Zwecke der Eigenwerdung scheut und dafür stattdessen auf die höchste Form der Verehrung setzt, auf Imitation und Gehorsamkeit!

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