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Die Maximierung der Menschlichkeit – Sina Trinkwalder

© Kruse Ralf

© Kruse Ralf

Wie kommt man eigentlich auf die Idee aus dem gut bezahlten Marketingbereich auszusteigen, um – völlig branchenfremd – im desolaten deutschen Massentextilbereich Fuß zu fassen?
Sina Trinkwalder: Eigentlich war Textil überhaupt nicht mein Plan! Im Gegensatz zu vielen anderen Mädchen hat Modedesign mich in meiner Schulzeit Null interessiert. Ich hätte ab einem bestimmten Punkt in meinem Leben im Grunde auch ganz woanders landen können, da die Branche für mich letztlich nur so etwas wie ein Vehikel war, um die ökosoziale Idee zu transportieren, von der ich überzeugt war.
Vor dieser Erkenntnis entsprach der Job in der Werbeagentur, für den ich mich nach meinem Studium entschieden hatte, zunächst viel eher meinen Vorstellungen. Mich störte allerdings recht bald schon, daß es in der Werbewelt leider gar nicht um Menschen geht, sondern nur darum, den Konsumkreislauf weiter und weiter anzuheizen und Produkte an den Mann zu bringen, die im Grunde keiner braucht. Sie wissen ja: Entweder man sagt die Wahrheit, mit der man nichts verkaufen kann oder man wendet sich an die Werbeabteilung und kreiert ein Marketingmärchen. Das Problem ist mittlerweile nur, daß die Nummer mit dem sorglosen Konsum längst durch ist! Die Kauf-Dich-glücklich-Botschaft ergibt schon lange keinen Sinn mehr, da man mit ihr rein gar nichts zur Verbesserung der Gesellschaft beiträgt.
Irgendwann griff die für Konsum so wichtige Logik, Geld sei wichtiger als alles andere, auch bei mir nicht mehr. In Wirklichkeit ist es relativ einfach zu verstehen, daß es nichts Wichtigeres geben kann … als Menschen und unsere Beziehungen zueinander! Inmitten des größten Erfolgs in meiner Agentur entbrannte also in mir die Sehnsucht, etwas mit Menschen zu machen, anstatt durch sie, und deshalb verlor meine bisherige Tätigkeit bald auch jeden Reiz.
In mir begann es zu rattern. Ich fragte mich, ob die Zukunft der Arbeit nicht sein könnte, sich konsequent für die Gemeinschaft einzubringen. Wieso kein Unternehmen gründen, das radikal auf menschlichen und nicht monetären Gewinn ausgerichtet ist?! Am Ende eines langen Denkprozesses stand für mich fest, daß ich genau mit den Menschen einen Neuanfang wagen wollte, die in unserer Gesellschaft die meiste Unterstützung benötigen! Fündig wurde ich bei denen, die in meiner Unternehmung mittlerweile wunderbar Fuß fassen konnten und den Erfolg erst möglich gemacht haben, also alleinerziehende Eltern, Menschen mit Migrationshintergrund, Personen mit Behinderungen, Senioren, Ex-Sträflinge usw. – diejenigen eben, die bei den „HR-Abteilungen“ (Human-Resource) landauf, landab als „nicht einstellungswürdig“ oder als Menschen mit „multiplen Vermittlungshemmnissen“ tituliert werden! Außerdem war Augsburg, der Sitz meiner Unternehmung „manomama“, vor dem Niedergang des Industriezweigs, eine der Textilhochburgen Deutschlands. An so eine Tradition kann man doch, wenn man schon einen radikalen Neuanfang sucht, anknüpfen, oder (lacht)!?

Als ob der Branchenwechsel nicht risikoreich genug wäre, basiert Ihre Unternehmung nicht wie heute üblich auf Gewinnsteigerung, sondern auf „Maximierung der Menschlichkeit“. Können Sie uns erklären, was damit gemeint ist und wie Sie das praktisch umsetzen?
Sina Trinkwalder: In der konventionellen Wirtschaft ist das oberste Ziel, billig zu produzieren und möglichst teuer zu verkaufen, alles, um eine möglichst hohe Marge zu erzielen. Ich wollte aber nicht mehr auf diese Weise arbeiten, nicht, nachdem mir klar wurde, daß diese „Mehr-ist-nicht-genug-Neurose“ immer auf Kosten der Arbeiter geht und zu Raubbau auf unserem Planeten führt. Unternehmen müssen sich heute mehr denn je fragen, ob ihre Legitimierung weiterhin auf dem zweifelhaften Paradigma der Gewinnmaximierung basieren soll, oder ob man nicht besser gemeinwohlorientiert arbeitet, also die sozialen und ökologischen Folgen seiner Unternehmung in den Mittelpunkt stellt.
Bei manomama beweisen wir täglich aufs Neue, daß man sowohl sozial als auch erfolgreich sein kann, einfach in dem man die Wertschöpfung der Menschen wieder wertschätzt! Das bedeutet in der Praxis, daß man seine Mitarbeiter ordentlich bezahlt, oder daß man Arbeitsplätze und Rahmenbedingungen schafft, die nicht krank machen oder psychischen Streß erzeugen. Ich habe aufgrund dieses sozialen Ethos’ übrigens auch nie meine Lieferanten unter Druck gesetzt, wie sonst üblich in der Wirtschaft, sondern ich bitte die Partner darum, uns den Preis zu nennen, den sie für ihr Produkt benötigen und den wir noch bezahlen können.
Ein Lieferant war z.B., nach dem er sein Angebot abgegeben hatte, ziemlich erstaunt darüber, daß wir es einfach ohne zu feilschen angenommen haben. Er rief mich also an und fragte verdutzt, wieso wir nicht handeln würden? Jeder würde das doch so machen. Ich erklärte ihm dann, wieso wir das anders handhaben und was wir damit gesellschaftlich verbinden. Das Ende vom Lied: er gewährte uns von sich aus einen wirklich fairen Preisnachlaß.
In meiner Wirtschaftswelt bräuchte man schlicht keine Einkäufer, die wären bei mir alle arbeitslos! Nachdem sich das herumgesprochen hatte, bekam ich immer gleich realistische Angebote und es wird seither nicht mehr gehandelt. Ich bin auf diese Weise bislang immer gut gefahren und noch nie über den Tisch gezogen worden. Es ist eben nie ein Fehler, Menschen zu vertrauen, es ist immer nur ein Fehler in Geld zu vertrauen!
Ökosoziale Bekleidung bedeutet aber auch, regional zu denken. Wenn möglich, wird deshalb alles in Augsburg und Region hergestellt oder aus einem Umkreis von maximal 250 Kilometer angeliefert. Außerdem werden unsere Textilien komplett in der gläsernen Manufaktur hier vor Ort produziert. So leben wir das hier. Uns reicht es, wenn die Null am Ende des Jahres schwarz ist, wir wollen uns ja nicht zum Sklaven von ständig steigenden Renditewünschen machen, hinter denen nur die Automatismen einer entfesselten Gier wüten. Wenn bei uns ein wenig übrigbleibt, wird das Geld reinvestiert, oder es kommt den Mitarbeitern zugute, z.B. in Form eines schönen Sommerfestes. Es ist aber auch nicht so, daß es sich hier um so ein komisches Sozialhilfeprojekt handelt, bei dem wir abends am Lagerfeuer sitzen und Gitarre spielen! Wir haben noch nie irgendwelche Fördermittel oder Subventionen erhalten. Wir haben nicht einmal Schulden bei der Bank. Unsere 150 Mitarbeiter und ich tragen uns selbst, aus eigener Kraft.

Welche gesellschaftliche Vision verbinden Sie mit manomama? Oder anders gefragt: Welche Probleme plagten Sie so sehr, daß Sie sich sagten: „Fertig aus, jetzt geh’ ich’s anders an!“?
Sina Trinkwalder: Das war kein Entschluß, den ich von heute auf morgen getroffen habe, zumal ich an meiner vorherigen Firma auch gehangen bin. Diese Art Unzufriedenheit wächst langsam. Es gab 2009 allerdings ein für mich doch relativ prägendes Schlüsselerlebnis. Ich hatte damals eine längere Zugfahrt vor mir und wollte zuvor am Bahnhof noch Altpapier entsorgen. Nachdem ich am Container war, fiel mir auf, wie ein Obdachloser meinen Zeitschriftenmüll wieder herausfischte. Ich fragte ihn ziemlich naiv, ob er diese Blätter auch so gerne lesen würde, woraufhin er mir erklärte, daß ihn die Zeitschriften inhaltlich gar nicht interessieren, ihm ging es viel mehr um die bunten Umschlagsseiten. Vor den Feiertagen seien die ideal, um daraus Weihnachtsschmuck zu basteln und das öde Leben auf der Platte ein wenig erträglicher zu machen.
Ich schmeiße alle möglichen Dinge einfach so weg, dachte ich, und andere Menschen sind gezwungen, daraus noch etwas zu machen. Dem Mann, das war ganz offensichtlich, fehlten grundlegende Dinge, wie eine geregelte Arbeit oder ein Dach über dem Kopf. Da sich politisch allerdings niemand für diese Menschen interessiert, fristen sie meist ein Leben auf dem Abstellgleis, ohne kulturelle Teilhabe, ohne gesellschaftliche Relevanz. Mir schoß durch den Kopf, daß diese Gleichgültigkeit doch auch eine Auswirkung auf unser Miteinander haben muß. Schließlich erkennt man die Güte einer Gesellschaft am Umgang mit Behinderten, Kranken oder Schwachen. Es konnte doch nicht sein, daß wir diese Menschen einfach ignorieren und ausgrenzen.
Nach der Unterhaltung stieg ich ziemlich nachdenklich in den Zug. Auf der Fahrt wurde es mir aufgrund des Erlebnisses jedoch von Station zu Station klarer: Es ging nicht mehr! Ich mußte raus aus dem alten Job und etwas Sinnvolles tun. In Stuttgart hat mir der liebe Gott dann einen Herrn, so Mitte 60, ins Abteil geschickt, der mich, weil ich wohl ziemlich komisch aus der Wäsche geschaut haben muß fragte, ob alles in Ordnung sei. Da ich von der Begegnung noch beeindruckt war, habe ich ihm ohne zu zögern meine Gedanken und die für mich mittlerweile klar ersichtliche Schlußfolgerung anvertraut, nämlich, daß ich von nun an etwas ganz anderes im Leben machen wollte, etwas, bei dem ich ein gutes Gefühl haben kann. Ich ging eigentlich davon aus, daß der Herr mir nach dieser Ansage auf die Schulter klopfen und mich loben würde. Pustekuchen! Im breitesten Schwäbisch bekam ich zu hören, daß das „de gräschde Scheißdreck isch, den er je g’hört hät!“. Aber danach hat er den wirklich wichtigen Satz gesagt: „Wissen Sie, es ist nicht wichtig, ob Sie Sinn in ihrer Arbeit sehen, wichtig ist, ob das, was sie tun, relevant für die Gesellschaft ist!“. Das war wirklich beeindruckend, denn er hatte einfach recht.
Es ist wahnsinnig egoistisch zu sagen, ich mache nur noch die Dinge, mit denen ich mich persönlich wohlfühle, da kann ich gleich Charity oder Yoga machen! Wenn ich meine heutigen Tätigkeitsbereiche betrachte, dann finde ich mehr als die Hälfte der Arbeiten wenig reizvoll, aber sie sind eben relevant für die Gesellschaft. Dennoch macht mich mein Job heute summa summarum viel glücklicher, als die Tätigkeit zuvor in der Agentur.

Sie sagen, manomama sei radikal ökologisch geworden, weil Sie zuvor die Produktionsprozesse Schritt für Schritt durchgegangen sind und die damit verbundenen Probleme analysiert haben. Können Sie uns diesen Prozess ein wenig schildern?
Sina Trinkwalder: Es ist ja mittlerweile ziemlich trendy, grün zu produzieren; wegen der Umwelt, den Tierchen und der Kinderarbeit und so. Ich kann nur sagen: Vergessen sie die Wohlfühlmärchen der Werbung! Für die Industrie wird ein Produkt nur deshalb grün „angestrichen“ – mehr ist es am Ende nicht –, weil Unternehmen auf diese Weise ihre Erzeugnisse besser verkaufen können! Punkt. Der Handel betreibt aus dieser Motivation heraus bewußte Verbrauchertäuschung und soziale Schönfärberei und führt die Kunden hinters Licht.
Da der heutige Konsument zu faul ist, selbst zu denken und Verantwortung zu übernehmen, kann die Industrie allerdings auch relativ einfach verschleiern, lügen und betrügen. Getrieben von Gier und im Auftrag eines Kunden, der scheinbar ein „Billig ohne Wenn und Aber“ toleriert, artet das ganze Konsumspiel zu einem Tanz um den Gewinn aus, jenseits aller Moral und Ethik. Klar haben viele Konsumenten ein schlechtes Gewissen und wollen etwas tun. Die Welt wird aber nicht besser, wenn wir mit derselben oberflächlichen Haltung wie zuvor „selektiv einkaufen“ und glauben, fairer Konsum könne die Welt verbessern! Da „fairarschen“ wir uns, wie ich es in meinem Buch beschreibe, nur selbst.
Wenn man, um auf Ihre Frage zurückzukommen, die Wertschöpfungskette eines Textilbetriebes betrachtet, dann sollte die wichtigste „Ökofrage“ viel eher sein, wie man den Arbeitsplatz gestalten muß, damit Menschen ihren Job möglichst lange verrichten können. Es sind die Arbeiter, bei denen die grüne Idee zu allererst greifen muß, damit wir später auch von einem ökologischen Produkt reden können! Grüne Marketingphrasen hingegen, da sollten wir uns nichts vormachen, dienen immer nur den ökonomischen Interessen der Industrie.
Als wir damals den Textilbereich analysiert haben, war uns die Antwort auf obige Frage aufgrund unserer sozialen Ausrichtung schnell klar: Wir müssen komplett auf den ganzen chemischen Mist verzichten, der die Angestellten krank macht. Kein Arbeiter will, daß seine Finger geschwollen und blutig sind, nur damit der Endkunde ein „Antischwitz-“ oder Antischmutz-Hemd hat! Dafür hat man ja eine Waschmaschine! Genau durch solch einen Marketingmist wird Ökonomie erst menschenverachtend. Wer ökologisch und sozial denkt, der kommt nicht umhin, die ganze Chemie weg zu lassen.
Der Mittelpunkt unserer unternehmerischen Ausrichtung ist deswegen die Wertschätzung menschlicher Leistung und Erfahrung. Unser erstes Hemd, das Modell „Marlies“, heißt beispielsweise so, weil uns die alte Marlies aus Augsburg beibrachte, wie früher Manschettenknöpfe im großen industriellen Stil angenäht wurden. Es gab hier einfach niemanden mehr, der sich noch mit textiler Massenproduktion auskannte. Es kann dir in Deutschland eben keiner mehr sagen, wie man produktiv wertschöpft, da wir es nur noch gewohnt sind abzuschöpfen. Wir holen das Zeug billig aus dem Ausland und verkaufen es dann teuer weiter, mehr geschieht bei uns im Grunde nicht mehr …

Deutsche Unternehmen produzieren in Billiglohnländern, um den hiesigen Verbrauchern billige Waren anzubieten. Wo liegt der Denkfehler in diesem Satz?
Sina Trinkwalder: In dem Wort „billig“! Unser Billig ist in Wirklichkeit ziemlich teuer! Die Wertschöpfung eines Produktes kostet nun einmal seinen Preis und irgendjemand muß am Ende des Tages die Zeche zahlen. Wir verschieben die Kosten allerdings in die nächste Generation oder in einen anderen Erdteil. Der wahre Preis versteckt sich innerhalb unserer globalisierten Ökonomie dabei so gut, daß die meisten gar nicht auf die Idee kommen, an unseren Umständen könnte etwas nicht stimmen. Die Flüchtlingsströme verdeutlichen aber z.B., daß dieses Discount-System auf Raubbau am Menschen basieren muß! Die Menschen kommen ja nicht zu uns, weil denen langweilig ist, sondern weil deren Lebensraum nicht zuletzt durch unser Einwirken keine Möglichkeit für eine menschenwürdige Existenz mehr bietet. Wenn jemand auf der einen Seite des Globus nämlich mit wenig Arbeit viel Geld verdient, muß logischerweise auf der anderen Seite jemand mit viel Arbeit wenig Geld verdienen! Das derzeitige System schaltet die Menschen auf diese Weise automatisch auf Kampfmodus und das wird zunehmend gefährlich!
Die Billigschiene ist in Wirklichkeit ein Teufelskreis; wir verlagern gute Arbeitsplätze in Billiglohnländer, reduzieren dadurch Kaufkraft im Inland und schaffen so bei uns Arbeitslose oder prekär Beschäftigte. Diese seien dann auf den Discounter „angewiesen“. Die Industrie wiederum kann durch dieses Scheinargument in Niedriglohnländern nahezu protestlos unter miesen aber billigen Sozialstandards produzieren und – nur darum geht’s – Kasse machen! Für diese perverses System bezahlen dann z.B. 1124 Näher/Innen in Bangladesch mit ihrem Leben. Ist halt so, sagt man sich dann bei uns kurz betroffen, schickt ein wenig Geld hin, kauft vermeintlich grün ein und am Ende des Tages geht alles so weiter. Das Deprimierende dabei ist, daß laut einer Studie 96% der jungen Menschen über derlei globale Mißstände gut informiert sind. Leider spielt jedoch dieses Wissen bei den Konsumentscheidungen keine Rolle.
Noch perverser wird dieses Billig-System, wenn es im Drittweltland durch die reiche Elite an den eigenen Landsleuten praktiziert wird. Fabrikbesitzer in Bangladesch z.B. machen auf diese Weise fantastische Geschäfte. Das sind oft junge Firmeninhaber in der zweiten Generation, die größtenteils im Westen studiert haben. Wenn die ins Land zurückkommen, dann denken die sich, das geht alles noch viel besser! Wir beuten jetzt nicht nur die Arbeiter aus, sondern wir maximieren – weil das bislang vergessen wurde – auch noch den Gewinn! Das ist Raubtierkapitalismus der schlimmsten Art … den diese Typen von uns gelernt haben.
Echte Fairneß fängt immer bei uns selbst an. Wenn ich faire Produkte möchte, dann muß ich erst einmal fair zu den Produkten und der Wertschöpfung sein, sprich, ich muß wieder anderer Leute Schweiß wertschätzen lernen! Ich muß ja nicht jeden Tag gedankenlos billige Hemden oder Lebensmittel kaufen, die ich dann mangels Wertschätzung einfach so wegschmeiße. Ich persönlich ersetze nur noch und zwar durch Produkte, die preiswert, also im wahrsten Sinne des Wortes ihren Preis wert sind! Ich esse auch nicht mehr das, was mir die Werbung versucht schmackhaft zu machen, sondern ich emanzipiere mich davon, in dem ich selbst aktiv werde und mir z.B. meinen eigenen Joghurt mixe. Ich gehe zu Fuß zur Arbeit, treibe Sport und fühle mich dadurch gesünder und kreativer. Verantwortung übernehmen bedeutet doch nichts anderes, als die tagtäglichen Fragen und Probleme durch eigenes Erleben und Nachempfinden zu beantworten! Nur durch Eigenverantwortung befreit man sich von dem korsettartigen Lebensstil, den sich die Industrie für uns ausgedacht hat und findet zu einem selbstbestimmten Leben zurück, nach dem wir uns doch eigentlich so sehr sehen.

Was paßt Ihnen an Fairtrade-Siegel bei Aldi und anderen Discounter nicht? Ist es nicht gut, wenn „Drittwelt-Bauern“ ihre Waren in großem Stil verkaufen? Oder werden wir mit dem „Ablaßhandel mit Zertifikaten“, wie Sie es nennen, ebenfalls „fairarscht“?
Sina Trinkwalder: An Fairtrade paßt mir das ganze System nicht! Hier hat sich ein „Gewissensmarkt“ entwickelt, der so ähnlich funktioniert, wie seinerzeit der Ablaßhandel bei der katholischen Kirche. Würden wir auf Augenhöhe mit den Rohstofflieferanten aus den Entwicklungsländern sprechen, bräuchten wir dieses „Bonusmeilensystem“ nicht. Wir würden dann einfach von Anfang an sauber das bezahlen, was der dortige Bauer benötigt. Wir arbeiten seit kurzem mit Rohstofflieferanten aus Afrika und Südamerika. Wir betreiben dort allerdings kein Fairtrade, sondern, weil wir direkt mit den Bauern handeln, „Directtrade“ und das funktioniert sehr gut.
Was ich an dem Siegel persönlich schlecht finde, ist die Tatsache, daß wir im Augenblick riesige Überschüsse haben. Im Grunde haben wir hier dasselbe Problem wie in der konventionellen Landwirtschaft, auf die der Fairtrade-Gedanke eigentlich ja auch nur draufgestülpt wurde. Eine gute Idee auf ein krankes Wirtschaftssystem zu stülpen, macht das System aber nicht besser, sondern die an sich gute Idee kaputt!
Bei Fairtrade werden nicht die Ärmsten der Armen gefördert, sondern nur jene Bauern, die sich die Zertifizierung leisten können. Außerdem wird dermaßen überzertifiziert, daß man auf der Ware sitzen bleibt. Nur 13% der so produzierten Baumwolle und 7% des Tees konnten mit dem Siegel verkauft werden. Der Rest wird eingelagert, weil er wegen des Preises keinen Abnehmer findet – genauso, wie bei konventioneller Ware eben. Aus diesem Grund ist es gang und gäbe, Fairtrade-Waren heimlich auch ohne Siegel zu verkaufen. Bei Mischprodukten ist es noch dreister: da genügt schon ein Fairtrade-Anteil von ca. 20%, um ein Siegel zu erhalten und es so bei Lidl & Co. zu platzieren. Mit dem sog. Mengenausgleich, z.B. bei Fruchtsäften, ist es zudem möglich, daß ein Saft noch als Fairtrade bezeichnet werden kann, wenn von 5000 Früchten eine Faire beigemischt wurde. Da kann das Produkt also Spuren von Fairness enthalten!
Ich finde, ein Grundanstand muß in der Wirtschaft wieder Einzug halten, denn nur Anstand und Respekt trägt uns auf Dauer! Alles andere bringt so viele üble Rückwirkungen, daß die Rechnung für uns am Ende richtig teuer wird. Moral und Ethik ist allerdings immer eine Frage der Erziehung, also des Elternhauses und nicht des Studiums. Es könnten viele ethische Grundsätze greifen. Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem anderen zu, oder, wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus usw. Auf jeden Fall brauchen wir wieder mehr Gemeinsinn, und den bekommt man nicht, wenn man die Leute einfach nur auf die Hochschule schickt und BWL studieren lässt – das braucht kein Mensch!

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