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„Ohne Anteilnahme am Nächsten kann nichts Nachhaltiges entstehen! – Wolfgang Sechser

Seit 2010 entsteht auf dem geschichtsträchtigen 30-Hektar-Areal von Schloß Tempelhof in Kreßberg (zwischen Stuttgart und Nürnberg) ein spannendes Zukunftsprojekt: Menschen aus ganz Deutschland gründeten hier ein Dorf, das seinen Bewohnern einen ökologisch nachhaltigen, sozial gerechten und sinnerfüllten Rahmen bieten will, in dessen Mittelpunkt der Mensch mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen steht. Wolfgang Sechser, Vorstand des genossenschaftlich organisierten Gemeinschafts-Modells „Zukunftswerkstatt Schloß Tempelhof“, erzählt im Interview über die Hintergründe zur Entstehung des erfolgreichen Projekts.

Welche Beweggründe veranlassten die Gründungsmitglieder des Tempelhofs zu einer radikalen Änderung ihrer jeweiligen Lebensmodelle? Die meisten von Ihnen waren doch in ihren „alten Leben“ sehr erfolgreich?
Wolfgang Sechser: Erfolgreich schon, aber nicht erfüllt! Bei mir war es beispielsweise so, daß ich in meinem „alten Leben“ als Chef eines erfolgreichen Bauunternehmens quasi bei den oberen Zehntausend in München ein- und ausgegangen bin und mir jeden erdenklichen Luxus leisten konnte. Als studierter Philosoph bin ich mir dabei allerdings immer eher als Beobachter vorgekommen. Auch die kurzfristigen Freuden, alles Mögliche kaufen und konsumieren zu können, änderten nichts an der Tatsache, daß sich bald eine tiefe Sinnlosigkeit in mir breitmachte, die in die bohrende Frage mündete: war es das jetzt?!

Zu meinem 40. Geburtstag habe ich dann einen Meditationsaufenthalt auf einer Berghütte geschenkt bekommen und die Erfahrungen, die ich dort oben machen konnte, waren für mich richtungsweisend. Ich realisierte, daß die nichtsichtbare Welt der eigentliche Grund für alles ist und diesen Bereich hatte ich bisher völlig ignoriert. Ich war von der Welt der Metaphysik derart begeistert, daß ich mich diesem Thema voll und ganz widmete. Ich habe an verschiedenen Ausbildungen teilgenommen, war im Kloster und sogar einige Wochen in der Wüste Sinai. Als ich von dieser Wüstenmeditation zurückkam, wußte ich: es geht in meinem Leben um Beziehung und in Beziehung treten! Ob ich nun ein Theaterstück produziere oder ein Haus baue, es geht letztlich immer um Beziehungen, um Organisation, es geht um das Spiel von Form und Auflösung, von Distanz und Nähe.

Als Reaktion auf meinen persönlichen Paradigmenwechsel gründete ich 2005 in München ein Gemeinschaftsforum. Ich habe dazu Menschen aus ganz Deutschland eingeladen, die ausgefallene Lebenswege gehen wollten. Das Forum sollte dabei nicht frontal oder dozierend sein, vielmehr erschienen uns für die Realisierung unserer Vorstellungen offene Gesprächsrunden viel passender. Der Sprecher hielt also einen knapp 20minütigen Impulsvortrag, während die Zuhörer lediglich beobachten sollten, was das soeben Gesagte mit ihnen machte. Da die Veranstaltung am Ende sehr gut ankam, haben wir uns zum Weitermachen entschieden und schließlich auf Grundlage dieser Konstellation eine Einkommensgemeinschaft, eine Artabana (Solidargemeinschaft zur Absicherung im Krankheitsfall) gegründet, in der mittlerweile über 2000 Menschen aus ganz Deutschland organisiert sind. Der erste Schritt für eine Solidargemeinschaft, wie sie uns vorschwebte, lag also in der Herauslösung aus dem klassischen Versicherungssystem, da unserer Ansicht nach jede Versicherung per se das Angstprinzip fördert.

Wenn ich mich mit fremden Menschen zusammentun möchte, um aus den gängigen Systemen herauszukommen, dann ist es essentiell darauf zu vertrauen, daß diese Mitstreiter mich im Krankheitsfall auch tragen. Der zweite Schritt lag in der Etablierung einer virtuellen Einkommensgemeinschaft, sprich, die Menschen legen einen Teil oder sogar ihr gesamtes Vermögen in einen Topf und die Gemeinschaft verwaltet das Geld. Dieses Modell sah jedoch keine Lebensgemeinschaft vor, die Menschen lebten also ganz normal in ihren Strukturen weiter und trafen sich lediglich einmal im Monat. Das war damals ein ziemlich radikaler Ansatz, so radikal, daß wir 2007 daran scheiterten! Uns war nach diesem „Misserfolg“ zum Glück schnell klar, daß dem Konzept eines maßgeblich fehlte: die Bezugsnähe! Um Erfolg zu haben, durften wir also nicht weiter eine lose Gruppe sein, wir mußten eine echte Gemeinschaft bilden!

Wie schafft man es so viele Menschen zu einer tragfähigen Gemeinschaft zu formen, ohne den Bewußtwerdungsprozess des Individuums zu schwächen?

Wolfgang Sechser: Das Spannende auf dem Tempelhof ist ja, daß wir nichts theoretisch machen! Alles was wir hier lernen, lernen wir, weil irgendetwas sich handfest ereignet. Grundsätzlich muß man dazu eben einen Rahmen erzeugen, der es möglich macht, seinen Beitrag zum Gemeinwohl als Chance und Weg für die eigene Entwicklung zu begreifen und seinen selbstgewählten Platz auch als „Berufung“ zu verstehen. Mir persönlich ist es dabei wichtig, daß wir hier ein lebensnahes Modell im Mikrokosmos ausprobieren und uns fragen, wie es möglich ist, mit ganz unterschiedlichen Menschen, also größtmöglicher Vielfalt, liebevoll, friedvoll, kreativ umzugehen. Interessant ist es zudem bei welcher Größe eine bestimmte Form noch konsistent bleibt, also wie viel Vielfalt und Menschenenergie ein Raum vertragen kann. Meiner Ansicht nach ist das Limit bei 30, maximal 40 Personen erreicht, da in diesen Größenverhältnissen das Kontaktprinzip, also die direkte Begegnung noch gewahrt bleibt. Im alten Sinne entspräche das dem „Sippenraum“. Über diesen Sippenkontakt hinaus geht es dann in den Dorfraum, wo am Ende, so unser Ziel, ca. 150 bis 200 Menschen leben sollen.

Um das gemeinschaftliche Gefühl auf dem Tempelhof zu festigen, arbeiten wir nach dem „Wir-Prozess“ von Scott Peck. Pecks Ansatz umschreibt die Voraussetzungen, die notwendig sind, um einen Lebensraum so zu gestalten, daß man in ihm auch in echte Gemeinschaft treten kann. Jeder Mitbewohner unserer Siedlung ist beispielsweise dazu verpflichtet an den monatlich stattfindenden Seminaren wenigstens sechsmal im Jahr teilzunehmen. Es gibt bei diesen Zusammenkünften, die nach dem „All-Leader-System“ arbeiten keine Gruppenleiter oder Hierarchien, es gibt auch kein Regelwerk, noch ein spezielles Thema, dem wir uns widmen, wir sitzen schlicht von Freitagabend bis Sonntagmittag zusammen und beobachten, was mit uns oder mit der Gruppe geschieht. Wir gehen dabei allerdings nicht in Dialog, sondern beschreiben was von Augenblick zu Augenblick in uns entsteht. Anstatt also Personen und die mit ihnen gekoppelten Gefühle in den Mittelpunkt zu stellen, versuchen wir durch die konsequente Selbstbeobachtung eine Ebene tiefer zu dringen, um dadurch an die Ursachen innerer Regungen zu gelangen. Dieser Prozess ist eher so etwas wie ein Abschöpfen von Energiezuständen und diese zeigen sich rein äußerlich in bestimmten Phasen und zwar in: Pseudoharmonie, Chaos, Leere und schließlich ein unbeschreibliches Verbundenheitsgefühl.

Ein anderer wichtiger Teil ist das mittwochs stattfindende Sozialplenum. Dort treffen wir uns um die anliegenden, alltäglichen Probleme zu besprechen und hier ist dann auch Dialog angesagt. Das Ganze läuft nach dem sog. Fishbowlkonzept, ein schon bestehendes Konzept aus den 90er Jahren, das wir für unsere Bedürfnisse weiterentwickelt und verfeinert haben. Das Dorf sitzt hier im großen Kreis beieinander, wobei innerhalb des Kreises sich sieben Sitzkissen befinden. Wenn nun jemand etwas vorbringen möchte, kann er sich auf eines der Kissen setzen. Maximal dürfen dort aber nur sechs Personen Platz nehmen und ein Kissen muß stets frei bleiben, damit ein Teilnehmer mit einem spontanen Impuls schnell in den Kreis kann. Die Menschen müssen aber immer solange sitzenbleiben, bis der jeweilige Sprecher fertiggeredet hat, da so gewährleistet bleibt, daß man den Raum des Zuhörens auch bewußt wahrnimmt. Die Personen in der Mitte können sich in diesem Rahmen einfach auf die Diskussion konzentrieren und der Rest außenherum hat genug Zeit das Ganze in fast meditativer Art auf sich wirken zu lassen. Der Zugang zum Diskussionsgegenstand ist dadurch ein anderer und auch die Wahrnehmung in der Gruppe gestaltet sich anders.

Und was, wenn einige einfach nur still dasitzen und nichts sagen?
Wolfgang Sechser: Selbst wenn jemand zweieinhalb Tage „nur“ still dasitzt, kann er eine Menge bewegen! Seine Stille kann der Beitrag sein, der die Gruppe maßgeblich weiterbringt. Wenn einige Wortgewaltige den Moment der Stille entdecken, kann es sein, daß es bei ihnen Klick macht und sie genau das in Worte kleiden, was der Stille in sich empfindet, so kann jeder etwas zur Diskussion beitragen. Es ist wirklich sehr bewegend, wenn nach solchen Sitzungen am Ende durch die Müdigkeit endlich die Masken und Konzepte fallen, die wir alle mit uns herumtragen. Dann taucht ein echter frischer Moment auf. Kulturpessimisten, die immer sagen „Es ist sowieso nichts mehr zu ändern“, würde ich mal solch einen Prozess empfehlen, damit sie einmal einen Moment frischer Authentizität erleben.

Wieso arbeiten Sie mit solch speziellen Regeln?
Wolfgang Sechser: Der zentrale Punkt bei allen Sozialmaßnahmen ist, daß man sich öffnen muß, wenn man in wahre Beziehung treten will und um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Menschen auch bereit sein ihre Ängste zu überwinden. Man darf nicht vergessen, daß wir alle aus der Angstwelt kommen, um die hemmenden Konditionierungen aufzubrechen, sind eben auch spezielle Maßnahmen erforderlich. Auf dem Tempelhof probieren wir aus diesem Grund viele unterstützende Konzepte aus, die wir ggf. anpassen, verfeinern oder auch verwerfen.

Wenn so eine Diskussion aber im Kollektiv stattgefunden hat und das Individuum wieder in seinem Wohnzimmer sitzt, so ist doch die Gefahr groß, daß sich das Ego wieder einklinkt, sich gekränkt fühlt und alle Entscheidungen und Prozesse revidieren möchte.
Wolfgang Sechser: Natürlich ist die Gefahr da, der Unterschied hier ist nur: wir alle hier bleiben im Feld! Wenn wir morgens aufstehen oder abends ins Bett gehen, bleiben wir miteinander verbunden, bleibt der Prozess spürbar erhalten. Auf irgendeine Art wirken die Diskussionen nach, die Gefahr sich auszuklinken, mit seinem Ego abzuhängen und sich gekränkt zu fühlen ist in solch einer Konstellation viel geringer.

Sie haben Menschen unterschiedlichster Überzeugung im Dorf. Wie läuft die spirituelle Praxis bei so unterschiedlichen Sichtweisen auf dem Tempelhof ab?
Wolfgang Sechser: Jeden Morgen um acht Uhr trifft sich das Dorf zu einem Morgenkreis. Wir halten uns die Hand und geben uns dabei 10 Minuten der Stille hin. Danach kann man sich kurz miteinander austauschen, Gäste stellen sich vor, verabschieden sich, persönliche Anliegen und auch organisatorische Fragen werden vorgebracht usw. Dieser Morgenkreis ist für mich ein Teil gelebter Spiritualität. Über dies hinaus bieten einige Menschen die Praktiken und Traditionen ihres Glaubens an. Yoga um 5 Uhr oder stilles Sitzen in der Frühe, es gibt die Forschungshütte, wo eher die Philosophie das Sagen hat, außerdem finden auch regelmäßig Impulsvorträge zu weltanschaulichen Fragen statt. Viele machen ihre Übungen aber auch gerne nur für sich selbst. Es gibt also viel Raum für individuelle Ansätze, genauso wie es auch öffentliche Veranstaltungen gibt. Auffällig ist aber, daß viele tendenziell lieber zuhören wollen, wissen wollen woher der andere herkommt, woran er glaubt, anstatt über sich und ihre Ansichten zu reden. Wenn jeder zuhören möchte, entsteht am Ende ein Raum der Stille … das ist die Ökumene, die wir gerade leben!

Aus Ihrer Sicht ist das heutige Finanzsystem nicht überlebensfähig; ein Grund für die Gründung des Tempelhofs. Was stört Sie konkret?
Wolfgang Sechser: Die zentrale Problem ist zweifellos das Zins- und Zinseszinssystem. Diese Konstruktionen implodieren ja in regelmäßigen Zeitspannen. Mit diesem System unterliegen die Schuldverhältnisse zwangsläufig einem eindeutigen, sich ständig wiederholenden Muster: einigen wenigen gehört irgendwann immer mehr und der Mehrheit gehört bald immer weniger. Diese Mechanismen müßten doch mittlerweile eigentlich alle kennen und aktuell auch sehen, dennoch macht man aber so, als ob alles ewig so weitergehen könnte. Die viel wichtigere Frage für uns hier ist jedoch, was ein System, das auf permanentes Wachstum angelegt ist, mit dem Menschen macht? Wachstum im heutigen Sinne heißt im Grunde, ich benötige immer mehr, mehr jedoch fördert im gleichen Atemzug Charaktereigenschaften wie Gier, Neid, Konkurrenzdruck. Dabei erlebe ich den Mitmenschen schnell als Bedrohung und gerate dabei in Angst. Man muß sich klar machen, daß für jeden Gewinn, den einer einfährt, ein anderer Mensch in Schulden fallen muß! Jeder der in diesem System gewinnt, schafft also irgendwo eine traurige gescheiterte Figur!

Ohne eigene innere Betroffenheit, Anteilnahme kann nichts entstehen, ohne echte innere Beteiligung gibt es keinen Aufbau. Das ist auch der Grund warum die Finanzwelt zusammenbrechen muß, da sie nicht mehr am Leben beteiligt ist! Das Geldgeschäft findet heute in einem virtuellen, anonymen Raum statt, dessen Ziele völlig an den tatsächlichen Lebensprozessen vorbeilaufen! Miteinander arbeiten hingegen bedeutet meine ureigenen, inneren Fähigkeiten aus einem Gefühl der Liebe und Dankbarkeit ins Leben zu integrieren – es strömt in mich hinein, es strömt veredelt wieder aus mir heraus und zwar zum Wohle aller Lebewesen!

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