lebenswertes

Mit Bildung gegen Armut – Anna Elina Reimers

Eine Jahrzehnte andauernde Fehde zwischen muslimischen und buddhistischen Bevölkerungsschichten, der verheerende Tsunami 2004, der praktisch einen ganzen Küstenstreifen in Schutt und Asche legte und nicht zu vergessen, der alljährlichen Monsun – Sri Lanka, die Insel am Südzipfel Indiens, ist ein schwer gezeichnetes Land. Ganz besonders schwer haben es hierbei die vielen Waisenmädchen. Die Stuttgarter Geigerin Anna Elina Reimers nutzt ihre Popularität, um diesen Kindern mit der „Allzweckwaffe“ Bildung eine Chance zu eröffnen. Ihr noch relativ junges Hilfsprojekt konzentriert sich dabei auf eine Waisenschule für Mädchen. Mittlerweile studieren – eine kleine Sensation – bereits die ersten Mädchen an der Universität! “

Wie kam eigentlich die Idee zustande, sich neben dem sicher anstrengenden Musikeralltag noch für eine Waisenmädchenschule in Sri Lanka einzusetzen? Gab es Schlüsselerlebnisse, oder war es ein lange gehegter Wunsch, karitativ tätig zu werden?

ANNA ELINA REIMERS: Was viele Konzertbesucher nicht sehen: ein im Rampenlicht stehender Musiker ist auf ganz merkwürdige Weise alleine. Wir präsentieren uns während eines Konzerts auf eine wundervolle, aber auch auf eine sehr einseitige Art und Weise und werden dabei zwangsläufig als Menschen nicht richtig wahrgenommen. Klar, es gibt das Orchester mit vielen tollen Kollegen. Man musiziert im Kollektiv und hat dabei diesen geradezu magischen Austausch untereinander. Dennoch fehlt mir oft dieser schlichte, direkte menschliche Kontakt und Austausch ohne jegliche Maske. Jenseits des Musikerdaseins war es mir schon lange klar, daß wir Menschen in den wohlsituierten Industriestaaten durch unsere privilegierten Lebensumständen im Grunde alle in so einem ambivalenten Scheinwerferkegel stehen … ich glaube, die meisten fühlen sich dort irgendwie ähnlich einsam wie ich!

Die Idee für dieses Engagement trug ich also schon eine ganze Weile mit mir herum. Als es für mich persönlich so weit war und das Ganze endlich in die Tat umgesetzt werden sollte, gestaltete sich jedoch die Suche nach dem richtigen Projekt dann doch schwieriger, als ich anfangs dachte. Es herrscht ja aufgrund der Armut und Ungerechtigkeit in der Welt geradezu eine Inflation an unterstützungswürdigen Projekten.

Auf meiner Suche bin ich schließlich auf eine völlig heruntergekommene Waisenmädchenschule aufmerksam geworden, in der 42 Kinder unter katastrophalen Umständen untergebracht waren. Diese Kombination aus Mädchenschule und Waisenhaus, aus Bildung und Erziehung hat mich von Beginn an fasziniert. Anfangs befanden sich dort ausschließlich Mädchen, die bei dem großen Tsunami Weihnachten 2004 ihre Eltern verloren hatten, mittlerweile finden aber auch andere Waisen Obdach in der Schule. Dazu muß man wissen, daß Sri Lanka ein bitterarmes Land ist. Oft sterben die Eltern, weil sie sich beispielsweise keine Medikamente leisten können. Der Arzt ist zwar umsonst, die Medizin bleibt für die allermeisten aber unbezahlbar, und deshalb sterben viele Menschen schon an relativ unkomplizierten Krankheiten, die wir hier in Europa mit ein paar Euros kurieren könnten! Diese fast zynische Unverhältnismäßigkeit zwischen Erster und Dritter Welt in der Realität mitzuerleben, ist unglaublich bitter.

Unter welchen Umständen lebten die Kinder, als Sie dort ankamen?

ANNA ELINA REIMERS: Bei meinem ersten Aufenthalt waren sämtliche Mädchen in einem einzigen Zimmer untergebracht und schliefen – weil es keine Matratzen gab – größtenteils auf dem blanken Boden. Kleidung war absolute Mangelware, und die paar Fetzen und Uniformen, die es an der Schule gab, mußten die Mädchen noch untereinander teilen. Ich kann mich außerdem noch daran erinnern, daß es anfangs nur zwei Stückchen Seife gab und ein paar durchlöcherte Handtücher, entsprechend schlimm waren natürlich auch die hygienischen Verhältnisse!

Unsere erste Aktion bestand darin, Handtücher, Seife, Kleidung und Matratzen zu besorgen. Kaum hatten wir diese Probleme jedoch einigermaßen gelöst, stürzte zu allem Übel das Schuldach wegen eines starken Regenfalls ein und die Matratzen fielen den Wassermassen zum Opfer … Manchmal scheint es, als spiele die Armut ein zynisches Katz-und-Maus-Spiel mit den Kindern. Im Augenblick konzentriert sich unsere Arbeit auf die Wiedererrichtung des Dachs und den Kauf neuer Matratzen und Moskitonetze.

Was ein junges pubertierendes Mädchen aber ebenso nötig hat, um in Würde zu leben, sind Hygieneartikel! Die Schule, in der die Kinder Zuflucht gefunden haben, ist im Besitz eines buddhistischen Ordens. Sie können sich vorstellen, daß man mit Mönchen schlecht über Menstruation und die Notwendigkeit von Binden reden kann! Das sind alles gute Buddhisten, aber letztlich sind es eben Männer, die rein theoretisch Frauen nicht einmal anschauen dürfen! Darin unterscheiden sich die auf der Insel einst feindlich gegenüberstehenden Muslime und Buddhisten nicht sehr voneinander. Ich habe den Mädchen aus diesem Grund beim meinem letzten Aufenthalt Unterwäsche und Hygieneartikel mitgebracht. Ich weiß noch, wie wir den Kindern die ersten Shampooflaschen hingestellt haben; die Kleinen wußten gar nicht, was sie damit anfangen sollten, die haben so etwas schlicht noch nie gesehen!

Welchen Grund hat bei diesem Projekt eigentlich die Trennung zwischen Mädchen und Jungs?

ANNA ELINA REIMERS: Mädchen sind in diesem Land die viel bedürftigeren Menschen! Wenn man ein Mädchen ist, hat man es in solch einer patriarchalen Gesellschaft schon von Geburt an schwerer. Mangelt es zudem noch an Bildung, so herrscht in den Mädchen schnell der fatale Glaube, daß man nichts an seinem Schicksal ändern kann. Ganz schlimm wird es jedoch, wenn so ein Kind keine Familie mehr hat, denn damit fehlt einerseits ein wichtiger Existenzschutz und zum anderen die nötige Mitgift, um einen guten Ehepartner abzubekommen. Diese Waisenmädchen müssen ja aus rein existentiellen Gründen den erstbesten Mann heiraten. Das ist dann aber leider auch der Anfang eines alten Teufelskreises: die Mädchen werden früh zu Müttern und vererben den Kindern ihr Elend. Aus diesem Grund konzentriert sich meine Arbeit rein auf die Waisenmädchen.

Was fangen Frauen, die so früh verheiratet werden, überhaupt mit ihrer Bildung an?

ANNA ELINA REIMERS: Wenn die Mädchen keine Bildung hätten, wären sie ausschließlich zuhause bei ihren Kindern und würden nichts anderes kennen als diese hoffnungslose Variante des Lebens! Wir dürfen die praktischen Auswirkungen von Bildung nicht mit europäischen Vorstellungen von Selbstbestimmtheit vergleichen. Wir reden hier immer von Weichenstellungen für die Zukunft, und für diese ist eben zunächst ein Gefühl von innerer Freiheit wichtig. Wie soll dieses Land denn auch aufblühen, wenn sich in der Keimzelle Familie kein Raum für neue Visionen entwickeln kann? Wenn die Frauen ein wenig Bildung genossen haben, können sie kreativer sein, sich besser einbringen, Gegendruck aufbauen, mitentscheiden. Im Augenblick liegt das intellektuelle Potential der Frauen doch völlig brach. Wenn der Druck, sofort heiraten und Kinder bekommen zu müssen, nicht mehr so massiv wäre, hätte das Land, vor allem aber die Frau, viel gewonnen. Mir ist bei meinem Engagement wichtig, daß die heranwachsende Generation neue Optionen denken können. Die Mädchen müssen die innere Freiheit haben, sich selbst in einem „Traumjob“, einer schöneren Zukunft vorstellen zu können. Der Rest ist dann eine Sache des eigenen Elans! Ohne Bildung wachsen sie jedoch mit dem Glauben auf, daß alles vorbestimmt sei und sie ohnmächtig wären.

Es ist mir wichtig, mit den Kindern über diesen Punkt zu reden, z.B. in dem ich ihnen schildere, daß ich auch aus bescheidenen Verhältnissen komme und meine Bildung mir heute ein besseres Leben ermöglicht. Natürlich kann man die Lebensumstände nicht direkt miteinander vergleichen, dennoch soll die Botschaft lauten: auch eine Frau kann ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen!

Was mir auch wichtig war und allzu liberal eingestellte Menschen vielleicht irritiert: ich verteile die Spenden nach dem Leistungsprinzip, d.h., wer gute Noten hat und fleißig ist, wird gefördert. Das mag im ersten Moment vielleicht hart klingen, die Kinder verstehen das aber, und das System funktioniert. Inzwischen studiert ein Mädchen Jura und ein anderes Medizin. Diese beiden Mädchen unterstütze ich dann, wie in einer Patenschaft, persönlich. Es ist aber selbstverständlich nicht so, daß Kinder, die in der Schule schlecht sind, kein Essen bekommen oder schlechter behandelt werden. Es gibt zu allem einfach noch die Möglichkeit, gute Leistungen mit einem Mehr an Unterstützung zu begleiten. Viele der Mädchen haben diesbezüglich aber schon sehr konkrete Vorstellungen. Die einen wollen lieber heiraten und keinen Beruf erlernen, andere interessieren sich mehr für handwerkliche Tätigkeiten, und einige Mädchen wollen gerne auf die Uni.

Für mich ist aber, wie schon erwähnt, auch der erzieherische Aspekt wichtig. Ich lasse mir bei jedem Aufenthalt die Schulhefte und Zeugnisse zeigen und frage nach, ob es Probleme gibt oder ob ein Mädchen besondere Hilfe braucht. Mir wäre es nicht genug, einfach nur Geld zu spenden. Es ist mir wichtig, daß die Mädchen eine sie haltende und fördernde Struktur spüren, die ihnen zwar etwas abverlangt, auf die sie sich im Gegenzug aber auch immer verlassen können.

Ist der Schulabschluß, den die Mädchen an „Ihrer“ Schule erhalten, staatlich anerkannt?

ANNA ELINA REIMERS: Ja, natürlich. Es gibt zwei Prüfungen, eine findet im Alter von 16, die andere mit 18 Jahren statt. Diese Abschlüsse sind mit unserem hiesigen Realschulabschluss bzw. Abitur vergleichbar. Man wird allerdings nur zur zweiten Prüfung zugelassen, wenn man auch die erste bestanden hat. Wer jedoch die Schule abbricht, z.B. um die Familie zu unterstützen, erhält in Sri Lanka keine zweite Chance mehr, eine weitere Schulausbildung ist somit ausgeschlossen.

Welche äußere Form hat denn Ihr Engagement und wie finanzieren Sie sich?

ANNA ELINA REIMERS: Im Augenblick ist es nicht mehr als eine Privatinitiative. Das Ganze wird also zum Großteil von Benefizkonzerten, wie die des Rosenquartetts und punktuellen Spendenaktionen finanziert. Ich bin gerade außerdem noch dabei, ein Patenprogramm aufzubauen. Die Vision wäre hierbei, besonders begabte Kinder, die z.B. auf die Uni wollen, verläßlich unterstützen zu können. Letztlich wäre mein großer Wunsch, wenn aus der Sache eine sich selbst tragende „kleine“ Organisation entstehen würde. Auf der anderen Seite bin ich bei dem Wort Hilfsverein oder Organisationen aber auch immer ein wenig skeptisch, weil oft ein Teil der Gelder nicht bei den Bedürftigen ankommt.

Organisatorisch ist es so, daß ich im Vorfeld eine Inventurliste erstelle und mir notiere, woran es akut mangelt. Wenn ich die notwendigen Gelder eingesammelt und die Hilfsgüter organisiert habe, schaffe ich die Waren direkt auf dem Luftweg nach Sri Lanka und verteile sie vor Ort. Dieses Prozedere erfolgt ca. viermal im Jahr. Den Flug bezahle ich natürlich aus eigener Tasche. So kann ich garantieren, daß die kompletten Spendengelder bei den Kindern ankommen.

Kann man denn in Euro angeben, wie viel Geld so ein Kind im Monat benötigt, um inkl. Schulbildung über die Runden zu kommen?

ANNA ELINA REIMERS: Ich persönlich rechne mit einen Pauschalbetrag von 25,- EUR pro Monat für Essen, Trinken, Kleidung und Schule. Das beinhaltet auch den Zusatzunterreicht schulfremder Tutoren, ohne die man die beiden Prüfungen gar nicht bestehen könnte.

Wie sieht die Zukunft Ihres Engagements aus?

ANNA ELINA REIMERS: Ich hoffe, daß sich das Projekt etablieren wird und viele der Mädchen auf die Uni gehen können, um dadurch später wieder andere Kinder zu unterstützen. Was mich immer wieder berührt, ist dieser „Nachahmungstrieb“ zum Guten. Die Mädchen wollen nach ihrer Ausbildung unbedingt auch anderen Waisen helfen, da muß man gar nicht groß appellieren oder erklären. Dieses Projekt zeigt mir immer wieder aufs Neue: der Wunsch, zurückzugeben und behilflich zu sein, ist eine im Menschen unerschütterliche und wundervoll angelegte Kraft!

WEITERE INFORMATIONEN:
„Visaka“ – Buddhistisches Waisenhaus für Mädchen auf Sri Lanka
www.annaelinareimers.com

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