lebenswertes

Unterwegs – Hätte ich doch die andere Kasse genommen! Christbäume für China und Lottoglück auf dem Seelen-Konto

Zwei Tage nach Neujahr. Ein großer Elektrofachmarkt ist schon, wie einige Male zuvor im Jahr, nicht „blöd“ gewesen und lancierte in allen möglichen Medien die Nachricht von „unglaublichen“ Sonderangeboten – mehrwertsteuerfrei! Ich bin beruhigt, denn ich muß heute zum Glück nicht in dieses Gedränge hinein! Eigentlich befinde ich mich auch schon auf dem Nachhauseweg, als plötzlich mein Handy klingelt.

Kunde … ganz eilig … benötigt unbedingt noch ein spezielles Kabel für sein neues Faxgerät, und zwar morgen früh! Da ich gerade zufälligerweise an dem besagten Elektrofachmarkt vorbeifahre, sage ich dem Kunden, ohne groß zu überlegen, zu und biege schnell entschlossen für den dringenden Einkauf in das weiträumige Parkareal des Marktes ein.

Schlagartig wird mir die Misere meiner Entscheidung bewußt! Vor meinen erstaunten Augen offenbart sich ein bizarres, bremslichtrotes Stauszenario mit unzähligen Autos, die in staccatoartigen Hupkonzerten den pubertierenden Parkplatzanweisern die letzten Illusionen rauben, die Situation in den Griff zu bekommen! Die verbale Kommunikation ist augenscheinlich zusammengebrochen und dabei in ein wildes Gestikulieren umgeschlagen – Chaos!

„Rien ne vas plus – nichts geht mehr!“ sage ich leise zu mir selbst und versuche mich in diesem Wahnsinn irgendwie aufzuheitern. Doch mein Galgenhumor nützt nichts, denn im Grunde weigere ich mich, hier anwesend zu sein; ich wäre lieber woanders, in einer besseren Gegenwart! Vor allem möchte ich aber auf keinen Fall in derselben Schublade stecken wie die zahlreichen mich umgebenden Kaufpilger, welche für den verheißenen Weg zum suggerierten Sparschrein exodusartige Märsche biblischen Ausmaßes auf sich nehmen, um nur ja einen wie auch immer gearteten Vorteil zu ergattern.

Wußten Sie eigentlich, ganz nebenbei bemerkt, daß ein Großteil der Schnäppchen, die in den großen Konsumtempeln ein Leben in Freiheit und Glück versprechen, schon nach einem halben Jahr auf dem Müll landen? Daß sich eine ganze Industrie auf diesen schnell zirkulierenden Konsumkreislauf konzentriert, und zwar mit Waren, die mit einer „Sollbruchstelle“ aus der Fabrik kommen, um dann nach zwei, drei Handgriffen wieder im Müll zu landen; Energieverschwendung, Ressourcenvernichtung und Umweltverpestung inklusive? Ich wußte das schon, und dennoch stehe ich hier in diesem Stau!

Ich grinse mich unsicher im Rückspiegel an … alter Schlawiner! Es gilt nun, diesem Treiben nach den besinnlichen und „entschleunigten“ Feiertagen unbeschadet, vor allem aber so schnell wie möglich zu entrinnen! Deswegen wähle ich die bewährte „Einsatzsonderkommandotaktik“: reinpreschen, auf das Kaufobjekt konzentrieren, zugreifen, bezahlen, raus – Mission erfüllt! Ich weiß, was Sie denken! Mir wurde es dann auch klar!

Man wird Teil dieser rasanten Konsummaschinerie, wenn man „schnell“, vermeintlich schmerzfrei und energieschonend einkaufen möchte! Man kauft dadurch im Gegenteil eher reflexartig, angstdominiert, meist falsch ein und vergißt zudem oft gar den relevanten Artikel – es bringt einfach nichts, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben!

Nach einer abenteuerlichen Parkplatzsuche gelange ich schließlich doch noch in den Elektromarkt und damit in das Herz des Konsumkreislaufs. Ich gebe es zu, die hochglänzenden Plasmabildschirme, schicken iPods und großartigen PC-Utensilien bewegen mich zu meinem Erstaunen mehr, als mir lieb ist. Doch warum nur?

Was habe ich als aufgeklärter und kritischer Mensch, der ich meine zu sein, denn mit diesem Karneval zu tun? Wieso scheint mein Innerstes auf diesen Firlefanz so heftig mit Vorfreude zu reagieren? Allem Anschein nach besitzen jene Waren einen seltsamen, missionierenden Kern … sie sprechen zu uns in einer geheimen Sprache! Aha?

Ich bin leise und nähere mich einem der Geräte so weit, daß es nicht wie ein bevorstehender Ladendiebstahl aussieht und auch nicht wie ein psychotischer Kunde, der einem ausgestöpselten elektronischen Abspielgerät lauscht. Ich stelle mir vor, wie das Gerät zu meinem Eigentum wird, wie ich mich mit seinen Eigenschaften verbinden kann. Bilder, Erlebniswelten, traumhafte Szenerien ziehen an meiner inneren Bühne vorbei, und alles dreht sich nur um mich! So grau und trostlos meine Welt auch sein mag, mit diesem Gerät habe ich einen treuen Freund an der Hand, der alles stets farbenfroh erstrahlen läßt!

Was sich hier anhört wie die Folgen eines akuten Einkaufkollers, ist nicht so weit hergeholt. Vielmehr finden solche „Visionen“ für Sekundenbruchteile doch vor jedem Kauf statt und generieren dabei ein wohliges Gefühl von Vorfreude!

Warum sonst sollte man tagtäglich acht Stunden oder mehr arbeiten, um dann ohne Skrupel sein sauer verdientes Geld an Waren zu verschwenden, die entweder nicht wirklich notwendig sind oder nach einem halben Jahr im Müll landen? Jenseits des Faßbaren muß etwas an den Geräten haften, das uns, jeglicher Vernunft zum Trotz, zu solch sinnlosem Kaufverhalten bewegt!

Plötzlich und völlig passend, als ob ein geheimer Souffleur mir die Antwort eingegeben hätte, erinnere ich mich an eine kuriose Meldung, die ich einige Tag zuvor in der Onlineausgabe des „Spiegel“ gelesen habe. Demnach bestellten die Chinesen und Araber zum Weihnachtsfest 2007 derart viele Nordmanntannen und Blaufichten aus Deutschland, daß es in einigen Regionen zu einem regelrechten Weihnachtsbaumdefizit und somit zu einer Verteuerung der knappen Ware auf dem heimischen Markt kam.

Tiefgekühlt, so der „Spiegel“, trete der grünbenadelte Adventsbegleiter die weite Reise in riesigen Containern an, um im Land der Mitte oder bei den Söhnen der Wüste für die verschwindend geringe Zeit vom vierten Advent bis zu den Heiligen Drei Königen schneepulverbeladen, lamettaverziert und kerzenbehangen zu erstrahlen. Irgendwie witzig, dachte ich mir damals schon, denn was haben wohl die Chinesen und vor allem die Araber mit dem „Christ-Baum“, also dem Repräsentanten einer Religion zu tun, die im eigenen Land nicht gerade gerne gesehen ist?

An sich dient der Tannenbaum in diesen Kulturräumen wohl eher als Feuerholz denn als Grundausrüstung für ein religiöses Fest. Den Chinesen aber, so der Artikel weiter, „… gilt ein nach US-Vorbild kitschig geschmückter Baum als besonderer Ausweis von Wohlstand und Shopping-Kultur“.

Ach so!

Shopping-Kultur ist eine eigenartige Wortkonstruktion, die man sich gerade in diesem Zusammenhang einmal genüßlich auf der Zunge zergehen lassen sollte. Was sagt es eigentlich aus? In diesem Fall bedeutet es für begüterte Chinesen und Araber die Möglichkeit einer schnellen Verfügbarkeit und Reproduzierbarkeit des im Abendland zelebrierten Weihnachtsgefühls.

Natürlich hat diese konsumgebundene Rührseligkeit rein gar nichts mit der Mission des Gottessohnes zu tun, nichts mit seinem Vermächtnis; durch sie wird vielmehr die Besonderheit eines Tages verschleiert, an dem uns der Himmel doch so viel näher sein könnte! Allem Anschein nach haben wir diese so wunder-volle Zeit aber derart trivialisiert und ihres Sinnes beraubt, daß Weihnachten selbst für einen Araber nicht mehr als Symbol eines anderen Glaubens erfaßt, sondern eher als Lifestyle-Zeitspanne betrachtet wird – gänzlich unreligiös, harmlos, kraftlos … nett.

Wenn man es unverblümt und mit ein wenig Sarkasmus auf die Spitze bringen möchte, dann erscheint dieses heutige Konstrukt, das die Christen allen Ernstes als ihr zweithöchstes religiöses Fest angehen, dem in sentimentaler Feierlaune befindlichen Nichtchristen als eine Art hedonistischer Dreitageskarneval mit bunten Pflichtutensilien, deren tieferen Sinn keiner verstehen muß, um die gewünschten Gefühle zu entwickeln!

Wenn man sich schon auf diese Farce einläßt, so dachte ich damals, dann sollte man sich wenigstens verdeutlichen, daß dieses Weihnachten ein von der Industrie gekapertes, entkerntes und neubefülltes Konstrukt ist, mit dem die Leuchtspur zum Ursprung des Festes verwischt wird, um seinen wahrhaftigen Kern mit einer zweckdienlichen Kauf-Dich-glücklich-Botschaft zu belegen!

Das fadenscheinige Kauferleben ist deswegen so perfide, weil es einen allzeit verfügbaren und konstruierbaren Moment des Glücks vorgaukelt, den Anschluß an eine urtümliche und unverbogene Kraft. Doch dieses Weihnachtsgefühl ist in Wirklichkeit nicht echt.

Genauso wie mit diesem Weihnachtsgefühl ist es auch mit dem, was mich momentan beim Anblick mancher Elektrowaren berührt. Die Artikel erscheinen so attraktiv, weil sie im Laufe der Zeit mit einem wertvollen Bild behaftet, mit Sternenstaub magnetisiert wurden! Hoffe ich also, indem ich mich mit „magischen Waren“ behänge, staffiere oder umgebe, konfliktfrei und glücklich erleben zu können!?

Die Traumblase platzt, ich wache auf aus dem Moment der Erkenntnis. Dann suchen wir also in dieser materiellen Erleuchtungsideologie durch Kaufen Erlösung aus dem Rad des Leidens, in das uns das Kaufen erst gebracht hat? – Ja, das habe ich mir dann auch gedacht: So ein Quatsch, keiner wird so borniert sein, daß er wirklich glaubt, ein Handy würde ihn „heil“ machen oder der Wahrheit näherbringen … Ich laufe weiter in eine andere Abteilung und lasse die Impressionen, die mein fiktiver Kauf auslöste, auf mich wirken. Ist es wirklich so, daß ich mein Glück und meine Zufriedenheit von solchen Äußerlichkeiten abhängig mache?

Mittlerweile bin ich in der Musikabteilung angelangt. Ich schlendere um die CD-Regale, während wilde Musikschnipsel an meinem Ohr vorbeiflanieren, als mir plötzlich eine markante Geschichte aus einem meiner zahlreichen Türkeiurlaube einfällt, die ich eigentlich jetzt und vor allem nicht hier erwartet hätte.

Das fadenscheinige Kauferleben gaukelt einen allzeit verfügbaren Moment des Glückes vor …
An jenem Abend gingen mein Vater und ich am Strand spazieren, und wie so oft mußte mein Erzieher mich mit dem Virus der Rastlosigkeit impfen, so, wie das Väter eben manchmal aus falsch verstandener Fürsorge tun. „Dein Leben ist eine einzige Katastrophe!“ sagte er, und während er pädagogisch gezielt lächelte, fragte ich zu seinem Erstaunen: „Warum eigentlich?“ Diese Frage entstand nicht aus Verzweiflung, nicht, um mich vor dem vernichtenden Urteil verteidigend zu schützen, sondern einfach nur, um diese mir so nahe Person zu verstehen. „Also, warum?“

Er antwortete so ausführlich, daß ich dachte: Er muß Buch geführt haben über all meine Taten, die er Versäumnisse nannte! Alles war fein säuberlich, minutiös und chronologisch gespeichert; ein kriminalistisches Meisterstück! „All das hast Du Dir gemerkt?“ fragte ich, woraufhin er weitere „Versäumnisse“ aufzählte, in dem Glauben, mich – zu was auch immer – zu bekehren.

Irgendwann unterbrach ich ihn und entgegnete: „Deine Welt findet im Kopf statt, Du wirst gequält von Deinen eigenen Gedanken, die Dich leben, bis Du vor einer Schreckensvision stehst, die es nie gegeben hat und nie geben wird!“ – „Ich bin nicht dumm, ich weiß, was ich fühle!“ – „Lieber Vater, ich glaube, Du trägst gerade Dein Herz im Kopf!“ – Stille.

Nun führte er völlig unbeeindruckt von unserem Wortwechsel eine merkwürdige Wunschliste auf, die in Wirklichkeit herzlich wenig mit mir zu tun hatte: Wenn Du doch das tun würdest oder jenes, wenn Du dort hingehen wolltest, jenen Weg wählen könntest, ich wäre der glücklichste Mensch dieser Welt, das schwöre ich Dir! Mehr wollte ich nicht vom Schicksal! Stille. „Du weißt sicher eine Menge“, sagte er, „hast ja auch studiert, Du warst aber noch nie Vater! Du weißt nicht, wie sehr man da am Wohl seiner Kinder hängt, man kann da nicht aus seiner Haut!“

Wir verstummten mit verzweifeltem Blick. Wir liebten uns doch, und dennoch lebten wir augenscheinlich auf zwei unterschiedlichen Sternen – ich stand hier, er dort, und zwischen uns lagen Welten. So entstand, aus der Verzweiflung dieses Augenblickes heraus, einer unserer wichtigsten Dialoge …

„Meinst Du, Dein Leben oder das Leben irgendeines anderen Menschen würde sich verändern, wenn er im Lotto gewinnen würde?“ – „Was soll denn diese Frage, mein Sohn?“ – „Glaubst Du nicht auch, daß die Hoffnung auf einen Lottogewinn ein Schutz, eine Tarnung dafür ist, daß man in Wirklichkeit selber gar nichts verändern will?

Welcher Mensch hat sich denn schon zum Guten verändert, nachdem er im Lotto gewonnen hat?“ Mein Vater schaute nachdenklich hinaus aufs Meer, ich setzte nach: „Vor dem Lottogewinn sind die Vorsätze groß, und alles soll besser werden … die Lotto-Wunschlisten der Welt, sie gleichen sich doch alle! Ich werde ein besserer Familienvater, habe mehr Zeit für meine Kinder, widme mich karitativen Zwecken, ehre meine Frau und suche den Sinn des Lebens.

Doch weiß ein jeder auch instinktiv, daß er nie im Lotto gewinnen wird. Und deswegen braucht er sich nicht anzustrengen, zu verändern; er muß nie anders werden, um die Forderungen einer besseren Zukunft, also seine Menschenpflichten zu erfüllen. In dieser Denkhaltung wird jede aufbauende Aktivität, jede seelische Anstrengung auf ein zukünftiges Ereignis gelegt, das sowieso nie eintreten wird, deswegen ist stets die Situation an den Miseren des eigenen Lebens schuld, nie die Person selbst.

Aber nehmen wir an, dann kommt der Tag, an dem der Mann wirklich im Lotto gewinnt! Oh ja, natürlich umarmt er seine Frau, küßt sie, ebenso seine Kinder. Er plant einen Urlaub und stiftet ein bißchen Geld (weniger, als ursprünglich gedacht). So geht die Sache gut – fünf Wochen lang. Und danach? Der alte Mensch mit anderen Problemen! Und die guten Vorsätze? Geopfert zugunsten neuer Probleme! Gewonnen? Nichts, was dauernden Wert hätte!“

„Lieber Sohn, was willst Du mir eigentlich sagen?“

Wir unterbrachen unseren Spaziergang und schauten uns gegenseitig erwartungsvoll an. „Wenn ich beginne, mein Leben für Deine Wünsche aufzugeben, wäre ich nichts anderes für Dich als der Lottogewinn für den Menschen in meinem Gleichnis, verstehst Du? Ich würde Deine Wünsche erfüllen, und Du würdest bald andere, neue Wünsche haben, deren Erfüllung unmöglich erscheint. Deine Wünsche gelten mir in Wirklichkeit gar nicht, sie lenken Dich nur von Dir selbst ab.

Du erwartest, daß etwas von außen kommt und eine Sehnsucht stillt, die nur Du selbst stillen könntest! Niemand braucht einen Lottogewinn, wenn er an seinem Leid etwas verändern will! Ich möchte kein Lottoschein sein!“ – „Ist ja schon recht!“ war die lapidare Antwort meines Vaters, welche zugleich meinen Appell beendete.

Danach saßen wir in einem Kaffeehaus, tranken schlechten türkischen Tee, schauten uns den Sonnenuntergang an, führten ein entspanntes Gespräch und genossen diesen besonderen Augenblick unseres Lebens. Ich glaube fest daran, daß mein Vater tief in seinem Innersten gespürt hat, was ich ihm sagen wollte. Er wußte, daß ich seinen Forderungen nie genügen würde, daß es immer etwas geben würde, was ihm zur Vervollständigung seines Glückes fehlte und ich nicht mehr wie die Krücke mit der Sollbruchstelle sein kann!

Die Sinnsuche im Äußeren befriedigt unseren Geist nicht, nur Eigenverantwortung führt ans Licht! Wäre ein junger Mensch tatsächlich für das Glück seiner Eltern verantwortlich, dann könnte man letztlich auch von Gott fordern: „Mache mich glücklich, mache die Welt schöner; sei mein Lottoschein!“ Doch wofür wären wir Menschen dann auf dieser Erde?

Wir sind für unser Wohlergehen selbst verantwortlich. Ein iPod, ein Plasmafernseher oder ein Lottogewinn steigern meine Lebensfreude nicht, wenn ich nichts von der Schönheit des Lebens weiß und sie vorher nicht in mich eingeladen habe.
War das ein Spaß, als die Karte sich stur weigerte, Geld freizugeben …
Wunderbar philosophiert, doch mein Faxkabel habe ich immer noch nicht! Ich halte mich für die noch verbleibende Zeit im Elektrofachmarkt mit den beiden obligatorischen „Einkaufsmantras der Verzweifelten“ über Wasser: „Waswollteichnoch? Waswollteichnoch?“ und „Eswirdallesgut! Eswirdallesgut!“ Ich remple und werde gerempelt, endlich findet mich das Kabel – raus hier!

Ich schleiche mit dem Rest meiner Kräfte zur Kasse und erblicke schon wieder eine lange Menschenschlange. Da das Mantra mittlerweile wirkungslos ist, zücke ich angesichts der nahenden Ausgangstür mit der berühmt-berüchtigten Kassenfrage meinen letzten Trumpf aus dem Ärmel! Die Frage: Welche Kasse arbeitet am schnellsten?

Kann ich mein Schicksal durch die richtige Wahl der Kasse beeinflussen, oder ist die Wartezeit vorherbestimmt? Nein, die Frage ist nicht überzogen, wie Sie jetzt eventuell denken möchten! Denn wie oft hatte man schon einen „Riecher für die richtige Kasse“, um dann zu sehen, wie die längere Schlange an der anderen Kasse frech grinsend vorbeizieht? Wie oft wurde man Opfer jenes Paradoxons, daß jemand mit einer lächerlichen Handvoll Waren aus irgendeinem Grund plötzlich länger benötigt als die bis an den Kaufhaushorizont reichende Kundenhorde an der Nebenkasse?

In diesem Elektromarkt gibt es 15 Kassen, an denen sich überall lange Warteschlangen gebildet haben. Ich entscheide mich für eine und merke während gefühlter 20 Minuten, wie zäh sich der Weg zum Bezahlen gestalten kann. Als dann endlich nur noch eine Person vor mir steht, stockt die Schlange plötzlich komplett, und die Wartenden starren in einer Mischung aus Frust und Neugierde gebannt in Richtung der rotgeschürzten Kassiererin und einem alles blockierenden Kunden.

Vor mir ein Allerweltsszenario: Eine Person im „Blaumann“ versucht verzweifelt, seiner Karte Geld zu entlocken – sie weigert sich stoisch. Selbstverständlich fällt auch hier der Satz, den wir alle kennen: „Gerade ging sie doch noch!?“ Die Kassiererin ist sehr freundlich: „Vielleicht schon zu viel eingekauft heute?“

Sie lächelt ihn an, und ich denke nur: „Danke, daß Sie ihm seine Würde lassen!“ Wie viele überforderte Kassiererinnen hätten diesen tiefen Fall des Kunden wohl ausgenutzt, um sich instinktiv an dem Entmündigten zu rächen? Rache für all die Überstunden, für die Unfreundlichkeit anderer Kunden, für die schlechte Bezahlung und für den Partnerschaftsstreß, der sich permanent an den neuen Arbeitszeiten entzündet.

Ich spüre die Enttäuschung des Mannes, seine Scham. Er schaut kurz verlegen zu mir her, wendet sich aber sofort wieder zum Kreditkassenterminal, um nach dem obligatorischen Sauberrubbeln der Karte erneut eine Abweisung zu erhalten.

Ich weiß natürlich, was ich ein paar Zeilen weiter oben über den Konsum, die Kaperung des urtümlichen Empfindens durch ein effektbeladenes Gefühl geschrieben habe! Dennoch: es tat mir so leid für diesen Menschen! Leid, daß er an diesem kurzen, fadenscheinigen Glück nicht teilnehmen konnte! Leid, daß er vor so vielen Menschen gedemütigt wurde! Die Freude des Kaufaugenblickes, die eigentliche Befriedigung und der tiefere Sinn dieser bizarren Szenerie, sie waren verflogen. Die großen Augen wurden klein und traurig, ein zuvor straffes Gesicht gab Sorgenfalten frei.

Ja, ich frage mich ja auch: warum kauft er denn auch so opulent ein, wenn er es nicht bezahlen kann? Doch mein imaginärer Anwalt der Entrechteten entgegnet mir: „Weil er teilhaben möchte! Weil er sich so freuen will, wie er es als Teil der Gesellschaft gezeigt bekommen hat!“

Es bleiben viele Fragen, Zweifel … ich lasse den Advokaten gewähren und verharre in Verständnis für ein trauriges Wesen. Obwohl diese Situation alltäglich scheint, ist sie doch auch hochzerbrechlich! Würde ich mich abwenden, zu einer anderen Kasse gehen, dann würde ich den Mann im Montageanzug doch als Lügner abstempeln, als Versager brandmarken, oder?

Ganz offensichtlich sind der Mann, die Kassiererin und ich in ein kleines schicksalhaftes Geschehen involviert, das uns eine innere und, wenn möglich, gütige Haltung abfordert.

Ich fasse mir ein Herz, lächle den Mann an und erzähle ihm, daß mir das auch schon passiert ist, daß sich die Sache sicher aufklären wird und er seinen Satellitenreceiver bestimmt auch morgen noch kaufen kann – er hat ja immer noch die Vorfreude! Er grinst verlegen, und mit seinem Lachen befreit er auch die Beteiligten. War das ein Spaß, als die Karte dann zum dritten Mal im Lesegerät verschwand und sich erneut stur weigerte, Geld freizugeben … Der Weg ist frei, und zu guter Letzt bin ich an der Reihe. Während ich mich dem Kassenlaufband nähere und endlich meine Nichtigkeit von Faxkabel ablege, registriere ich argwöhnisch, daß die lange Warteschlange an Kasse 5, welche ich gerade vorhin aus mir offensichtlich guten Gründen mied, schon seit einiger Zeit leer steht, scheinbar freigefegt im Expreßverfahren – empörend unlogisch!

Ich denke erneut an die hochphilosophische Kassenfrage: Hätte ich mich gleich an der anderen Kasse aufgestellt, ich wäre schon längst im Auto, unterwegs nach Hause, und hätte „es“ hinter mir! Welches „Es“? Dieses Erlebnis? Das Leben etwa? Auf welchem Konto sparen wir hier eigentlich?

Wieso findet das Beste im Leben eigentlich immer in einer ominösen Zukunft statt, die eines geläuterten Ichs bedarf? Und wieso ist diese Zukunft in Gedanken immer klinisch rein? Wieso warten wir ständig auf „Godot“ und scheuen uns bis zu dessen Ankunft wahrhaftig zu leben?

Wieso hebt man sich alles Wertvolle – das mehrteilige Silberbesteck, die gute Bettwäsche, das teure Porzellangeschirr, aber auch den Mut, auf seinen inneren Schatz im Alltag zurückzugreifen – für diesen schwammigen Sankt-Nimmerleins-Tag auf?

Vielleicht, weil wir lieber abwesend, nicht geistesgegenwärtig sind und uns in unserer sicheren, anonymen, verantwortungsfreien Gedankenwelt betrachten, in der mühelos alle Allmachtsphantasien wahr werden und in der wir ein ganzes Leben ohne Widerstände und Anstrengungen verbringen können?

Ich habe es dann schließlich auch begriffen! Erstens gibt es keine andere Realität außer dieser einen, also derjenigen, in der wir gleichsam Leid und Glück erleben und in der wir durch die verschwenderische Freude am Geben paradoxerweise das Seelen-Konto füllen.

Und zweitens ist das nachdenkende Ausloten hypothetischer Möglichkeiten zwar ein nettes Talent des Gehirns, in Wirklichkeit aber das Übel in dieser Welt, da es das Schicksal aufteilt in Erlebnis und Beobachter! Ich bin aber stets Teil des Geschehens, es gibt keine Trennung, und ich bin jetzt nun einmal hier, an der wohl langsamsten Kasse der Welt … na und?!

Ist also alles im Leben so kausal, wie man es sich immer vorstellt? Oder, um bei unserem Beispiel zu bleiben: Spart man Zeit, wenn man an der vermeintlich schnelleren Kasse gewesen wäre? Wir können das Leben nun einmal nicht berechnen!

Unsere kleinkarierten Betrachtungen von Schicksal, Ursache und Wirkung sind immer subjektive Gebilde, erstellt aus dem maroden Material „Wunschdenken“. Das Leben indes schert sich wenig um unsere kurzsichtige Wunschplanung, seine Bahnen führen weiter, sind harmonischer und seine Geschichten so viel bunter, erfrischender und umfassender, als wir es uns je denken könnten!

Endlich komme ich an die Reihe. Es ist bereits nach 20 Uhr. Die Kassiererin hat einiges hinter sich, man sieht es ihr deutlich an. Anstrengende Kunden, lange Arbeitszeiten und dazu der ständige kalte Zug im Rücken durch die elektronische Schiebetür fordern ihren Tribut! Doch trotz alledem sieht sie mich zu meiner Überraschung kurz lächelnd an, hält für einen goldrichtigen Augenblick inne und sagt leise, einfühlsam, fast freundschaftlich: „Alles Gute zum neuen Jahr!“

Da erscheint mir ein Moment des bewußten Lebens inmitten dieses so leeren Konstrukts, inmitten der „Shopping-Kultur“, inmitten meiner langumschriebenen Abneigung gegen das Theaterstück in diesem Elektrofachmarkt! Ein gemeinter Satz, kein Reflex, keine Dressur! Sie meint deutlich, was sie sagt, und ich empfinde instinktiv … Dankbarkeit.

In meiner netten Ideologie, meinen Klischees vergaß ich Menschen wie diese Kassiererin!

Welche Kasse nun? Es ist ganz gleich, welche Kasse ich gewählt hätte, denn jede Entscheidung erzeugt eine Geschichte, die mich reflektiert, meine „Güte“, meinen inneren Zustand widerspiegelt!

Ich war dankbar für diese scheinbar zusammenhanglosen Episoden dieses Abends, gegen die ich mich so gesträubt hatte, die zum Schluß jedoch in eine unvorhersehbare, für mich fantastische Geschichte mündeten … einfach so!

Ich war hier, das spürte ich so stark in mir, war anwesend im Geschehen, umflossen von Welt und Teil eines Augenblicks, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wiederfanden, und der Lohn war ein Wiedersehen mit mir selbst, einer Person, die sich vor lauter Arroganz, „geistreicher“ Ökonomie, Kastendenken und Trägheit schon zu lange aus den Augen verloren hatte und dabei den leeren Definitionen ihers Verstandes blindlings gefolgt war.

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