lebenswertes

Perlen am Glasspiel, Teil 2

Zu später Nacht liefen der Herrscher und der Eremit auf verschlungenen, selten begangenen Pfaden. Der Kalif kannte den verborgenen, steilen Weg, er führte vom Wasserplatz quer durch einen wunderschönen Bergwald in luftiger Höhe zur Schule der Eremiten. Beim Anblick seiner alten Wirkstätte freute sich der Herrscher. Wie oft hatte er den Vorplatz gefegt, war den Weg hinab- und wieder hinaufgelaufen, um die Wasservorräte zu füllen, oder er hatte mit seinem alten Oheim über das Leben und die Schriften gesprochen. Seine Bleibe war nicht so gewesen, wie man es von einer Berghöhle erwarten würde; die Unterkunft der Fürstenkinder war prächtig ausgebaut und mit edlen Teppichen geschmückt worden.

Den Kalifen hielt nun nichts mehr, und er ging voll Vorfreude in die Höhle, wo er, nachdem er einige Fackeln entzündet hatte, die Tür zu seinem alten Refugium öffnete. Ein schönes Bett, ein großer Lichtschacht, durch den man sogar die nächtliche Sternenpracht betrachten konnte und … sein geliebter Schrein. Wie liebte er diesen schlichten Schrein mit seinen kunstvollen Schnitzereien und den Räucherstäbchen darauf, mit den Blumen, den zahlreichen Büchern und vor allem der Pergamentrolle, die an zentraler Stelle über dem Schrein an der Wand hing und mit der Handschrift des Propheten benetzt war! Lange Zeit verbrachte er damit, diese Rolle zu bestaunen.

„Die Pergamentrolle des Propheten“ ertönte aus dem Hintergrund die Stimme des Eremiten.

„Ja, wie oft habe ich in ihr gelesen. Die vielen Sätze, wie unendlich geistreich sie doch sind. Ich konnte sie alle auswendig, aber ihr Geheimnis gaben sie mir nicht preis!“ „Hast Du wirklich geglaubt, daß die Buchstaben Dir etwas Neues zu sagen hätten?“ fragte der Eremit.

„Es sind die Worte des Propheten! Wenn man darin nichts Neues findet, dann wohl nirgendwo!“

Der Eremit ging in das Zimmer hinein, betrachtete den Schrein und endlich die große, prächtige Pergamentrolle. „Was wäre, wenn ich Dir sage, daß auch das Bildnis eines Gottes und eine jede seiner Reliquien zerstört werden muß, damit der Weg wieder klar vor uns erscheinen kann? Verstehst Du, o Kalif, dies hier sind alles nur einfache Wegweiser, die gut für eine bestimmte Strecke sind! Der Prophet hat seinen Weg zum Heil gefunden, doch wäre es töricht, wenn Du wie der Hase im Gleichnis stur seinen Weisungen, seinem Pfad folgen würdest, um zur herrlichen Weide des Herrn zu gelangen. Gehe doch ohne schlechtes Gewissen Deinen Weg!“

Als der Eremit diese Worte ausgesprochen hatte, sah er den Kalifen mit ernster Miene an. „Kommt näher, mein Fürst, und seht in das Geheimnis!“

Der Fürst tat, wie ihm geheißen, so daß er nun ganz dicht an der Pergamentrolle stand. Die Erlebnisse der letzten Stunden hatten ihre Wirkung hinterlassen, denn mittlerweile war der so souveräne Fürst unsicher geworden, angespannt und voller Zweifel, doch waren es gute, wertvolle Zweifel, da das Fundament seines Glaubens nicht nah genug an der Wahrheit gebaut war. Er betrachtete angestrengt die Sätze des Manuskriptes … aber er konnte kein Geheimnis entdecken. Hatte er nicht genau genug hingesehen? War ihm etwas entgangen?Nach langer Suche und Analyse gab der Kalif, enttäuscht von sich selbst und seinen offenbar unzureichenden Fähigkeiten, auf. Er war traurig, war abgekämpft und müde, betrachtete apathisch das Pergament – als ihm zu seinem eigenen Erstaunen die Hasengeschichte in den Sinn kam. „Er, der treu ergebene Sohn, mißachtete den gutgemeinten und Sicherheit versprechenden Ratschlag des Vaters, da ihn plötzlich eine bisher unbekannte Macht mit Siegesmut und Trost belegte und ihm zweifelsfrei Leben versprach. Es fiel dem Jüngling leicht, die unsichtbare Hand dieser Führung zu ergreifen und im Gegenüber den treusten Freund zu erkennen. Kraft durchzog ihn, seine Angst wich, er war frei und klug noch in der höchsten Not, und er bestand durch jenes unverbrüchliche Vertrauen die wichtigste Prüfung seines Lebens.“

Während er diese Worte still in seinem Innersten sprach, wie in einem Gebet, erlebte der Kalif die Geschichte tatsächlich in sich nach – und auch ihn überkam nun eine unvorstellbare Macht, die ihn mit Siegesmut und Trost verzauberte. Sein Körper richtete sich auf, seinem Blick entschwand die Schwere, und seine Hand … ja, seine Hand huschte auf einmal, als ob sie eigenen Gesetzen folgte, geschwind in Richtung der Reliquie, um mit Wucht in sie einzufahren und dadurch ein faustgroßes Loch zu reißen!

„War ich das?“ entfuhr es ihm, wie aus Trance erwacht. In einer Mischung aus Erleichterung und größtem Entsetzen starrte der Kalif auf den Riß im Papier. Doch … was war dort noch? Bei genauerem Hinsehen bemerkte er hinter der Pergamentrolle eine geheime Mulde in der Wand, und in dieser Mulde sah der erstaunte Kalif eine neue, kleinere Papierrolle liegen, die von einer roten Banderole umfaßt und einem edlen Siegel behütet wurde. Er griff schnell entschlossen und mit wild pochendem Herz in die Mulde, entnahm vorsichtig das geheimnisvolle Dokument, zerbrach das Siegel und entrollte schließlich das Papier, so daß er es endlich lesen konnte. Und das Erstaunen des Kalifen wuchs noch weiter, als er sah, daß darauf ein Gleichnis geschrieben stand …

Ein junger Mann durchstreifte zu später Nachtstunde auf der Suche nach Erkenntnis den blau gefärbten, mondbeschienenen Wald. Er litt unter einem sinnlosen Zustand in seinem Leben, für den er eine Lösung suchte und in der Stille zu finden meinte. Als er in der Mitte des Waldes angelangt war, wurde es ihm plötzlich unheimlich. Angst ergriff ihn, denn aus der Dunkelheit der Bäume vernahm er ein streitsüchtiges Knurren, das offensichtlich zu einem ebenso großen wie gefährlichen Tiere gehören mußte! Äste brachen, Schritte kamen schnell näher. Zu den ohnehin schon bedrohlichen Geräuschen gesellte sich ein mächtiges, dunkles Knurren. Zweifelsfrei war dies ein wilder Hund, wahrscheinlich ausgerissen, bißwütig … tollwütig? Aus der Angst des jungen Mannes erwuchs Panik. Wie sollte er sich gegen solch eine Bestie wehren können? Geistesgegenwärtig bückte er sich und ergriff wie im Rausch nach einigem hektischen Tasten auf dem schattenverschmierten Waldboden einen breiten, soliden Ast. Rettung! Er hatte eine Hilfe gefunden, mit der er sich verteidigen und behaupten konnte, und so wichen die Panik und Angst bald neuem Mut, von dem der Mann ganz ergriffen wurde. Er war nun kein Blatt mehr im Wind, er war der Dunkelheit und seiner Bestie nicht mehr bedingungslos ausgeliefert, sondern konnte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Nach einigen selbstbewußten Schritten in angespannter Erwartung des Kommenden bemerkte er zu seiner Freude jedoch, daß sich die Geräusche im Unterholz von ihm entfernten, bis schließlich nur noch vereinzeltes Bellen aus der Ferne zu vernehmen war.

Überglücklich, fast euphorisch, diese Situation so wunderbar gemeistert zu haben, lief der Mann noch einige Zeit den Pfad entlang, bis er an die Lichtung kam, an der sein Pferd angebunden seiner harrte. Doch als er aus der Schattenwelt des Waldes in die Lichtung trat, überkam ihn jäh eine merkwürdige Vorahnung. Irgend etwas stimmte nicht mit seinem Stock! Er hob den mächtigen Ast, sah ihn kurz verwundert an, um schließlich seine siegverheißende Waffe mit sanftem Druck kurz gegen den Waldboden zu schlagen – das morsche Holz zerbrach in mehrere Stücke und lag lachend am Boden …Fremder! Endlich hast Du das Papier zerrissen, weil Dein Drang nach Wahrheit groß genug war! Du hast erkannt, daß der Glaube auf dem Weg zur Wahrheit wichtig ist. Dein Respekt vor hehren Gedanken heiliger Menschen ehrt Dich, dennoch ist er nur ein kurzlebiges Vehikel, das Dich nur so lange begleitet, bis Du selbst zur Erkenntnis, an Deine Lichtung gelangst. Stets werden es morsche Äste sein, die Dir für Abschnitte Deines Weges wie Schwerter besten Stahls vorkommen und Dir im Gang durch die Dunkelheit die Illusion von Unverwundbarkeit und Vollkommenheit geben.

Deine Sehnsucht möge sich erfüllen, Dein Drängen nach einem Leben in Allahs Nähe möge Dich nimmer loslassen. Mögest Du einst den dunklen Wald verlassen und keine Hilfen mehr benötigen, da alles schon licht und hell um Dich herum ist. Dann bist Du aÅŸik mit dem Leben, rein und voll Glück – das Leben liebt Dich und Du das Leben!

Der Kalif fiel unter Tränen auf die Knie, tiefe Reue überkam ihn. Er sah seine Taten, seine Fehler nun so klar vor sich und bat alle, die unter seiner Strenge und seiner Lieblosigkeit gelitten hatten, still um Vergebung. Der Eremit, der die Wandlung des Kalifen aus gebührender Ferne beobachtete, ließ dem Kalifen seine reinigenden Tränen und die Zeit der Reue.

Irgendwann, als dann die letzte Träne geweint war, drehte sich der Kalif zum Eremiten um, und flehte ihn an: „Ich sehe meinen Fehler, sehe meine Starrheit und Leblosigkeit.

Ich begreife die Gezeiten meiner Unzufriedenheit, die mit der Seligkeit eines Erkenntnisfunkens beginnen, mit der Verzweiflung, diesen Funken halten zu wollen, weitergehen und in verbitterter Moral und Strenge enden, da dieser Moment der Einheit nie zu halten war. Ich sehe, daß AÅŸik erst mit Wunschlosigkeit, mit Fahrenlassen und Dahingeben wachsen kann … Tugenden, die ich nie zu leben wagte! Jetzt, wo jegliche Waffe zerstört und alle Angst in Gleichmut verflogen ist, bitte ich Dich:

Hilf mir das Feuer zu entzünden und aÅŸik zu werden!“ „Ich kann Dir nicht helfen Herr! Die Freiheit des Menschen und sein Wille sind heilig und von außen uneinnehmbar! Selbst wenn ich wollte, könnte ich dieses Feuer nicht in Dir entzünden!“

Der Kalif ließ seinen Blick langsam zu Boden sinken. „Ich verstehe.“

„Verzage nicht, Herr“, sagte nun der Eremit, „und höre noch die folgende Geschichte!“ …

 

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