lebenswertes

Perlen am Glasspiel, Teil 1

Der Kalif des Landes war bekannt für seinen Scharfsinn und seine Frömmigkeit. Er verehrte die heiligen Schriften der Weisen und Propheten und sorgte stets dafür, daß seine Untertanen nach den Lehren des großen Buches lebten. Bei Allah, ja, er war zwar ein wenig eigenartig, doch ging zugleich ein merkwürdiger Glanz von ihm aus, da in ihm bei aller Buchstabenhörigkeit ein leidenschaftliches Feuer loderte und die Hingabe zur Lehre nicht verlogen war oder einem niederen Zwecke diente, wie bei so manch anderem Herrscher. Er war kein Ignorant oder gar naiv, sondern im Gegenteil wortgewandt, gebildet, und er verfügte über immense Überzeugungskraft und einen Scharfsinn, der weit über die Grenzen seines Reiches hinaus berühmt war.

Als orthodoxer Hüter des Glaubens sah der Kalif es als seine Pflicht an, die Lehre rein und im ursprünglichen Sinne zu erhalten und dabei die Umsetzung der heiligen Worte in seinem Reich zu fördern. Darum wachte er über sein Volk mit den Augen eines Falken und der Strenge eines Löwen. Sobald er von Abtrünnigen oder gar Andersgläubigen hörte oder Verstöße gegen die heilige Schrift bemerkte, lud er die Sünder in seinen Palast ein und stellte die Delinquenten unerbittlich zur Rede. Dabei wußte er seine Argumente so klug zu führen, das Denken seines Gegenübers so messerscharf zu erforschen, daß es in all den Jahren keinen in des Kalifen Reich gab, der schließlich nicht zum Glauben zurückgefunden und die Maßregeln des Herrschers in sein Leben eingewoben hätte.

Rohe Gewalt jedoch war dem Kalifen ein Greuel, wenngleich er im schlimmsten Falle auch davor nicht zurückgeschreckt hätte.

Als der Hahn an jenem Morgen vom Anbruch des neuen Tages kündete, schien zunächst alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Die vielen kleinen Stände des Bazars erwachten leise zum Leben, Händler spannten große Tücher über ihre bunten Auslagen, und der Duft von Kardamom, geröstetem Sesam, frischem Brot und allerlei wundervollen Gewürzen schlängelte sich langsam und elegant durch die engen, schattenspendenden Gassen der prachtvollen Stadt. In den Lehmhäusern reichten verschleierte Frauen ihren Lieben aus verbeulten Messingkaraffen duftenden Minztee, Kinder freuten sich, endlich wieder wach zu sein und Leben versprühen zu dürfen … Allahs Morgenlicht brach an und kündete von einem neuen, herrlichen Tag.

Der Kalif war, wie jeden Morgen zur selben Stunde, auf den hohen Gebetsturm gestiegen und bereitete sich als Vorbeter auf die frühmorgendliche Lobpreisung Allahs vor. Er schloß dabei die Augen, wartete eine Weile und versenkte sich vor dem ersten Laut in das Werk der Heiligen, konzentrierte sich auf ihre Worte, sinnierte über ihre Ratschläge und dachte noch einen Augenblick über die tausend Umschreibungen des himmlischen Reiches nach.

Kurz stieg in dem Kalifen auch die Erinnerung an den erhabenen Eremiten auf, in dessen Obhut er sich sieben Jahre lang befunden hatte …

Es war Brauch in der Linie der Kalifen, daß die jungen Prinzen vor Antritt ihres Amtes von einem weisen Eremiten am weit entfernten Hain nördlich der großen Stadt ausgebildet wurden. Das Amt des Kalifen verlangte von seinem Träger nicht nur die Fertigkeit der weltlichen Führung, der Herrscher mußte sich ebenso die Kunst der inneren Zwiesprache erworben haben. Er mußte also den Boden in sich so vorbereiten, daß er Allahs gütige Stimme und somit seinen Willen jederzeit und in allen Lebenslagen spüren konnte.

Kurz dachte der Kalif an seine karge Unterkunft im Exil, an seinen Schrein, an die herrliche Pergamentrolle mit der Handschrift des Propheten …

Ein erster Ruf in den kunstvoll geformten und reich verzierten Eisentrichter weckte die letzten Schläfer. „Die Zeit des Gebetes ist nun angebrochen!“

Der Kalif wartete eine Weile, bis der Hall seiner Stimme sich in den Gassen der Stadt verlief. Dann folgte der zweite Ruf. „Kehre in Dich ein und öffne Dein Herz dem Herrn aller Welten!“

Dann erschallte ein dritter, letzter Ruf. „Der Tag bricht an, o Gläubiger, und soll Dich vorbereitet finden! Siehe die Pflichten, die Allah Dir auferlegt!“

Die Worte kamen singend aus des Vorbeters Mund, und die Melodien der einzelnen Verse waren flammend und zugleich so liebevoll gesungen, daß alles ringsherum sich willig in des Wortes Takt wiegte, wie das Schilf im Spiel des Windes.

Während der Herrscher nun den Rest des Gebetes vorbrachte, ergab es sich, daß eine große Fliege sich störend auf seine Nase setzte. Sie war dem im Gebet versunkenen Kalifen lästig, und er öffnete widerwillig seine Augen, um das Tier zu verscheuchen. In diesem Augenblick fiel ihm in einer Gasse unmittelbar vor dem Gebetshaus ein Mann auf, der nicht innehielt wie die anderen, sondern unbekümmert lustwandelte. Sichtlich unbeeindruckt von der Pflicht des Augenblickes, flanierte er an den schattenspendenden Dattelpalmen vorbei, hin zum großen, prächtigen Brunnen, wo er, angekommen, sein Gesicht mit dem kühlen Naß benetzte und auch ein wenig Wasser zu sich nahm. Anschließend trocknete er in aller Ruhe seine Hände und sein Haupt mit einem Handtuch und biß dann nach kurzer Pause voll Wonne in einen frischen Sesamkringel, den er in seiner Tasche aufbewahrt hatte. Wußte er denn nicht, daß die Momente des Gebetes in Keuschheit verbracht werden müssen, daß Speis und Trank und Rede, also alle Sinnlichkeit, ein Verstoß gegen die Sitten des Morgengebetes sind?

Der Kalif rätselte zunächst, was er mit dieser Szene anfangen sollte, denn so dreist gegen die Traditionen, gegen das Wort des Propheten hatte sich in aller Öffentlichkeit wahrlich schon lange keiner mehr versündigt.

„Gebetszeit ist Gebetszeit“, ärgerte er sich, „nichts kann diesen Verstoß rechtfertigen!“

Während der Kalif das Gebet weiter in die Eisenmuschel stieß, beobachtete er gleichzeitig den Fremden und sah dabei, wie dieser die Stadt verließ und nördlich in Richtung des heiligen Hains ritt. Er mußte den Frevler stellen, ihn zur Vernunft bringen. Der merkwürdige Drang nach einer Konfrontation mit dieser Person war dermaßen stark in dem Fürsten, daß es ihn, den meist Besonnenen, selbst verwunderte. Insgeheim spürte der Kalif aber tief in sich, daß diese Begebenheit eine Wendung in sein Leben bringen würde …
Die Minuten des öffentlichen Stillstandes lösten sich nach dem Gebet schnell wieder in ein farbenfrohes Treiben auf. Händler feilschten wie immer um das Geschäft ihres Lebens, Teehäuser bewirteten schon die ersten Besucher, in Schleier gehüllte Frauen erledigten im Bazar die Einkäufe für die Speisen des Tages – über allem lag nun staubiger Alltag. Im Kalifen jedoch wirkte nach, was er auf dem Gebetsturm gesehen hatte, denn das soeben Erblickte empörte ihn und mobilisierte dabei seine Kräfte um so mehr. Er ließ sein Pferd satteln, packte eine Handvoll Datteln als Wegzehrung in seine Satteltasche und ritt sogleich in nördliche Richtung.

Nach einem Tagesritt kam er am großen Hain an. Ein See, umringt von üppiger Vegetation am Fuße eines hohen Berges, begrüßte den Herrscher. Die Sonne stand schon tief über dem Land, färbte den Fluß, die Sträucher und die Erde bis zum Horizont in pulsierendes Feuerrot. In der Ferne, am Seeufer, sah er ein kleines Feuer. Der Fremde! Er gab seinem Pferd hastig die Sporen und erreichte zum kühlen Abendblau die Feuerstelle, an der tatsächlich der gesuchte Mann saß.

„Salam aleikum“, begrüßte der Fremde den Fürsten respektvoll.

„Wa aleikum al salam!“ kam es noch ein wenig kühl aus dem Kalifen.

„Allah, der Barmherzige schickt mir einen Gast. Ich danke dem Gütigen. Bitte setze Dich zu mir und teile Seine Gnaden mit mir.“

Der Fürst rang um Fassung, denn nicht nur lud ihn ein Fremder in seinem eigenen Reiche als Gast an ein Feuer ein, das mit den Palmzweigen seines Hains entzündet worden war, nein, Allah, den Schöpfer des Alls, von dem einer wie er nichts wissen konnte, so in seine Rede einzubinden, war die große Frechheit! Doch der Kalif blieb ruhig, wußte er doch, daß jegliches Recht, das sicher auf seiner Seite stand, durch eine wutentbrannte Rede vergrault werden würde und sich eine solche seiner ohnehin nicht geziemte.

Geduld ist die Tugend der Großen, dachte er sich. Erst galt es, noch mehr über den eigentümlichen Fremden zu erfahren, um ihn dann später zu bekehren, auf den Pfad der Tugend zurückzubringen. Er stieg also ruhig von seinem Roß, näherte sich der Feuerstelle und setzte sich auf ein weiches Kissen, das einladend seiner harrte.

„Kennst Du diesen Ort?“ begann der Fremde zu fragen, während er dem Fürsten gleichzeitig ein frisch geröstetes Fladenbrot und die Hälfte eines knusprigen Kaninchens reichte.

„Ich kenne ihn! Er ist heilig, denn hier, in den geheimen Höhlen oben in den Bergen, lebt seit Jahrhunderten stets ein Eremit, der den Sohn des Kalifen in sein Amt einführt.

Hier lebte auch einst der große Prophet, und hier begann auch seine Mission!“

„Warum erwähnst Du in Deiner Rede nicht auch, daß der Prophet hier in AÅŸik verfiel?“ fragte der Fremde.
Der Kalif war nun das erste Mal seit langer Zeit sichtlich verblüfft. Bei all seinen Bekehrungen hatte er nie Widerstand erfahren, da keiner seiner Untertanen mehr über den Propheten und sein Werk wußte als er selbst. „A¸sik ist ein Wort, das Du nicht mit dem Namen des Propheten in einem Satz verwenden solltest!“ belehrte der Kalif den Fremden nachdrücklich. „Weißt Du denn nicht, was es bedeutet?“

Der Fremde nahm einen Schluck Wasser zu sich und sah dabei eine Weile in das Feuer. „Ach A¸sik!“ kam es nun sehnsuchtsvoll aus ihm, „die letzte Stufe der Erkenntnis! In Liebe sein, ewiglich verliebt sein in Allah und seine Schöpfung! Der zeitlose Augenblick, der ein ganzes Leben währt! Der Prophet war ein großer A¸sik, denn er schaffte die Wandlung seiner selbst in einem einzigen Leben! Wußtest Du das denn nicht? Wieso sollte ich also seinen Namen nicht mit der allumfassenden Liebe in Verbindung bringen? Nur weil Du Dich aus Angst vor der sinnlichen Liebe unrein fühlen könntest?“

Das war zuviel für den stolzen Herrscher. Der Kalif sprang erzürnt auf und griff nach dem Dolch an seinem kostbaren Gürtel. „Wer bist Du, Fremder? Gib Dich dem Kalifen dieses Landes zu erkennen!“ schallte es heftig am Seeufer entlang. „Du tauchst in meinem Reich, in meiner Stadt auf, mißachtest die goldenen Gesetze und belehrst mich nun über den Sinn der heiligen Worte, beleidigst mich gar!“

„Beruhigt Euch, mein Fürst, ich bin der Eremit dieser Berge, und ich wußte die ganze Zeit, wer Ihr seid!“

Die Entschlossenheit am Griff des Dolches löste sich. Aufs neue war der Kalif verblüfft, hatte er doch nicht damit gerechnet, daß ein Eremit sich je in die Stadt begeben würde, um dort gar die Regeln zu brechen, so daß er schließlich seine Aufmerksamkeit für diese Begegnung weckte. Der Fürst wußte, daß es wohl einen Sinn hinter all den Merkwürdigkeiten geben mußte, doch bevor er fragen konnte, kam ihm der Eremit erneut zuvor. „Du bist vom Weg abgekommen und hängst an der Oberfläche der Dinge, anstatt Dich a¸sik in sie hineinzuversetzen. Glaubst Du denn, Dein Volk wäre Allah, dem Großen, einen Hauch nähergekommen durch Dein Wirken? Tief in Dir bist Du doch auch unglücklich darüber, daß Du die Menschen nicht mehr als Sitte und Brauch lehren kannst. Doch keinen Deiner Untertanen führst Du in die Selbständigkeit, so daß er wahrlich frei in sich werden könnte.“

„Ich bewahre die Traditionen!“ erwiderte der Kalif schnell. „Die Menschen ehren die Schriften, beten, fasten, besuchen die Gotteshäuser! Es sind gute, gottesfürchtige Menschen!“

„Du sagst es, mein Herr, sie fürchten ihren Gott!“ Kurz war Stille am Lager. Das Feuer knisterte, und Glut flog in die Höhe, träumte, befreit von seiner bindenden Last, den Traum der Schwerelosigkeit. „Sie machen doch in Wirklichkeit nur das, was Du ihnen aufträgst. Nichts von dem, was sie tun, verstehen sie in rechter Weise, weil sie die Notwendigkeit eines Gesetzes nie in sich selbst entdeckten. Du gibst alles vor, und Dein Volk ahmt Dich nach, aber hinter dem tollen Spiel steckt Angst, steckt Trägheit! Höre hierzu folgendes Gleichnis, mein Fürst …“

Ein Hasenvater zog mit seinen beiden Söhnen aus zur Futtersuche. Es dauerte nicht lange, da kamen sie an eine saftige Wiese, die ihnen überreich Nahrung bot. Alles schien so wunderbar, wäre da nicht ein Falke gewesen, der hoch am Himmel auf seine Beute lauerte. Der Vater wußte, wie gefährlich der weitere Weg sein würde, und so wies er seine beiden Söhne in strengem Ton an: „Der Weg zur Weide ist gefährlich und kann uns das Leben kosten, denn dort oben lauert der Tod. Ich werde deshalb zuerst losrennen und solch wilde Haken schlagen, daß der Falke nicht ahnen kann, wo mein nächster Schritt sein wird. Im Schutz des großen Baumes warte ich dann auf Euch und weise Euch ein, wie Ihr zu laufen habt, um sicher anzukommen. Wenn Ihr meinen Rat befolgt, werden wir bald gemeinsam auf der herrlichen Wiese speisen, befolgt Ihr meine Regeln aber nicht, so werdet Ihr selbst die Speise des Falken sein!“

Beide Söhne sahen das Familienoberhaupt mit großen Augen an und nickten dann artig. Der Vater rannte los und spurtete zuerst in Richtung eines toten Baumstumpfs, indem er einen linken, einen rechten, zwei linke und wieder einen rechten Haken schlug. Die Kinder betrachteten voller Bewunderung den Vater und freuten sich über dessen Gewandtheit.

Auch der Falke bemerkte das Geschehen unter sich und hoffte auf eine gute Mahlzeit – die Wiese unter dem Schutze des mächtigen Baumes mit seiner dichten Krone war schon zum Greifen nah. Der Hasenvater rannte weiter, schlug einen linken, zwei rechte Haken, der Falke setzte zum Todesstoß an, doch bevor sich die dolchartigen Krallen in das Fell bohren konnten, setzte der Hase zwei blitzschnelle rechte Haken nach, die den Angriff ins Leere laufen ließen. Der Vater war nun auf der prachtvollen Wiese angekommen und wartete im Schutz des Baumes auf den ersten Sohn. Er rief ihm zu: „Ein linker, ein rechter, zwei linke und ein rechter Haken bis zum Baumstumpf! Danach rennst Du direkt auf die Wiese zu und setzt zwei schnelle rechte Haken nach!“

Der Falke wartete auf den Lauf des Hasenjungen und stand mit kurzen Flügelschlägen gespannt in der Luft. Sodann rannte der erste Sohn los, doch als er schon nach kurzem Lauf den Falken auf sich herunterstürzen sah, geschah etwas Eigenartiges in ihm: Er, der treu ergebene Sohn, mißachtete den gut gemeinten und Sicherheit versprechenden Ratschlag des Vaters, da ihn plötzlich eine bisher unbekannte Macht mit Siegesmut und Trost belegte und ihm zweifelsfrei Leben versprach. Es fiel dem Jüngling leicht, die unsichtbare Hand dieser Führung zu ergreifen und in ihr den treusten Freund zu erkennen. Kraft durchzog ihn, seine Angst wich, er war frei und klug noch in der höchsten Not, und er bestand durch jenes unverbrüchliche Vertrauen die wichtigste Prüfung seines Lebens. All dies geschah im Bruchteil eines Augenblickes. Der Falke war schon ganz nah am Ziel, seine Krallen nur Momente vom todbringenden Stoß entfernt, da schlug der junge Hase geistesgegenwärtig zwei linke Haken und noch einmal zwei linke Haken, dann einen rechten und rannte mit der Entschlossenheit des Mutbeseelten direkt unter den Baum zu seinem Vater. Der Falke hatte nicht mit solch einer Aktion gerechnet und brach den Angriff ab. Doch anstatt sich über den erfolgreichen Lauf seines Sohnes zu freuen, war der Vater außer sich, da er nicht seinen Rat befolgt und den ihm vorgegebenen Weg mißachtet hatte. „Du Narr mit Deinem kindlichen Übermut! Du hättest wegen Deiner Eigenwilligkeit sterben können! Ich gab Dir den sicheren Weg vor, doch Du mißachtetest ihn!“

Der junge Hase bat um Verzeihung und versuchte zu erklären, welch köstliche Kraft sein Innerstes durchglüht und ihn zweifelsfrei geführt hatte. Doch es war keine Zeit für lange Erklärungen, denn des Vaters Blick lag schon voll Sorge beim anderen Sohn, der im Drang, es seinem Bruder und Vater gleichzutun, kaum zu bändigen war. Erneut schraubte sich der Falke in die Höhe und wartete auf den dritten Hasen. Dabei lauschte er genau darauf, was der Vater dem Sohn zu sagen hatte. „Mein Junge, sei nicht so verwegen wie Dein Bruder, folge meinem Rat: ein linker, ein rechter, zwei linke und ein rechter Haken bis zum Baumstumpf!“

Der Sohn gehorchte – und der Falke verstand. Ein linker, ein rechter, zwei linke und ein rechter Haken – der Hase war schon tot, bevor er auch nur die Nähe des rettenden Baumstumpfs erreichen konnte!
Der Kalif hatte einen anderen Ausgang des Gleichnisses erwartet. Die Moral behagte ihm nicht, da er sie verstand. „Ich danke Dir für diese interessante Geschichte. Du willst mir doch aber nicht sagen, daß es ein Fehler sei, wenn der Sohn den Rat des Vaters befolgt!“

„Mein Kalif, genau in dieser Antwort zeigt sich Deine falsche Sichtweise. In der Geschichte geht es nicht um das Fehlverhalten des ersten Sohnes, sondern um die falsche Einstellung des Vaters!“ entgegnete der Eremit kühn. „Keiner der beiden Söhne darf sich auf seine innere Stimme verlassen, da der Vater es ihnen verbietet. Er wähnt seinen Weg als den einzig wahren und glaubt, die Kinder seien zu unreif und hilfebedürftig, um eine Aufgabe bewältigen zu können, deren Erfüllung ihnen aber in Wirklichkeit seit jeher im Blut liegt!“

Der Kalif wurde nachdenklich, und langsam begriff er die Mission des Eremiten.

Immer wieder sah er Bilder der Vergangenheit, die er hier am Hain, in den Bergen, in der kargen Lebensschule verbracht hatte, und je stärker die Erinnerung in ihm aufkam, desto enttäuschter war er von sich selbst. Er hatte es in all den Jahren nicht geschafft, zur Quelle seiner selbst vorzudringen und dadurch die große Weihe zu empfangen.

Als nach sieben Jahren des Aufenthaltes sein Vater gestorben war und die Staatsgeschäfte drängten, hatte er die Schule ohne die Meisterweihe verlassen müssen. Die Enttäuschung über das Unvermögen, a¸sik mit dem Leben zu sein und somit fortan zum Segen seines Volkes aus dem Born des Lebens schöpfen zu können, war geblieben. Bald hatte eine stille Wut den jungen Kalifen erfüllt und den Platz der einstigen Sehnsucht eingenommen. „Ich habe das große Geheimnis so sehr gesucht, ganz gab ich mich der Lehre, der Versenkung hin, doch was ich auch tat, nie drang ich in die Tiefen vor, die mich zur wahren Überzeugung gebracht hätten! An den entscheidenden Stellen stand ich immer vor den Worten der heiligen Schrift und nicht in ihnen.“

Der Eremit lauschte dem aufgewühlten Kalifen. Der Panzer, den dieser mit der Zeit um sich gelegt hatte, löste sich, und nun konnte die erleichterte Seele ihre Reise just an der Stelle fortsetzen, wo sie vor Jahrzehnten abgebrochen worden war. „Als der letzte Eremit im Sterben lag, mußte ich ihm versprechen, daß ich Dich, mein Fürst, zu gegebener Zeit aufsuche und in seinem Namen darum bitte, zu vollenden, wovor Du einst schon ganz dicht standest.“

Der Kalif war gerührt von dem Mitgefühl seines alten Meisters. Gerne hätte er die Reise fortgesetzt – doch wie? Allahs Wege sind unergründlich! Als ob der Eremit die Gedanken des Fürsten gelesen hätte, entgegnete er ihm: „Ich zeige Dir einen Weg. Folge mir!“ …

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