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„Zitronenbäume pflanzen statt Zitronen quetschen!“ – Prof. Gerald Hüther

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„Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher“. So lautet ein Buchtitel von Prof. Gerald Hüther, und treffender kann man das Wirken und das Selbstverständnis des sympathischen Forschers aus Göttingen nicht beschreiben. Prof. Hüther plädiert für Kreativität und Begeisterung statt Leistungsdruck und Streß – und für den Wechsel von einer Gesellschaft der Ressourcennutzung zu einer Gesellschaft der Potentialentfaltung.

Japan hat als einziges Land die Folgen zweier Atombombenabwürfe zu spüren bekommen und speist heute, keine 70 Jahre nach den Ereignissen, seinen immensen Energiebedarf aus 55 Atomkraftwerken! Wie lernfähig ist unsere Spezies? Wieso fällt es uns Menschen so schwer, aus der Vergangenheit zu lernen oder gute Vorsätze in die Tat umzusetzen?

GERALD HÜTHER: Man muß zuerst einmal aufpassen, daß wir nicht unsere Maßstäbe an andere anlegen. Wir sollten stets versuchen, die Dinge aus der Perspektive des anderen zu betrachten, um auch zu verstehen, was für den Mitmenschen bedeutsam ist! So gesehen kann man schon nachvollziehen, wie stolz die Japaner sein müssen, daß sie sich aus eigenen Kräften aus dem Elend des II. Weltkrieges gezogen haben und heute sogar zu den führenden Industrienationen zählen! In ihren Augen verdanken sie ihren Wohlstand unter anderem der Atomkraft, und deshalb geht man in Japan auch ganz anders an die Technologie heran als wir in Deutschland. In diesen Punkten wird die Umweltdebatte wohl eher zweitrangig sein. Ganz davon abgesehen, schämen sich die Japaner ja geradezu, daß dieser Unfall in ihrem Land passieren konnte.

Aber wie steht es um das Vermögen des Menschen, Fehler zu sehen und sie zu korrigieren? Prof. von Weizsäcker sagte hierzu in einem Interview für unsere Zeitschrift, daß der Mensch sich erst dann einer Gefahr bewußt stellen wird, wenn er merkt, daß er ihrer Herr werden kann. Davor ignoriert er sie lieber.

GERALD HÜTHER: Der Mensch wird eben alle Maßnahmen ergreifen, die ihm helfen, seine anvisierten Ziele zu erreichen. Solange er diesen Zielen näher kommt, läßt er auch vom Altbewährten nicht ab! Mit den Geschehnissen in Japan wurde jedoch wieder aufs neue klar, wie falsch das Bild ist, das wir uns von der Welt und von uns selbst gemacht haben!

Wir sind nicht die Alleskönner, die wir gerne wären, und unsere Welt ist nicht einfach so beherrschbar, wie wir uns das wünschen! Die gesamte Katastrophensequenz in Japan ist ein Fanal, das darauf hinweist, wie wenig der Mensch die Dinge in Wirklichkeit im Griff hat.

Wir laufen als Menschen ständig Gefahr, daß wir kurzfristige Erfolge anstreben, auch auf die Gefahr hin, daß unser Verhalten langfristig hinderlich für uns sein könnte. Nehmen wir ein Beispiel aus der Traumatisierung. Da hat jemand etwas ganz Furchtbares erlebt, und er findet eine Abkürzung aus dem Leid, indem er den Schmerz verdrängt, aus seinem Bewußtsein abspaltet. Irgendwann wird dieser Mensch jedoch plötzlich krank, und er weiß nicht weshalb. Es stellt sich heraus, daß das abgespaltene Trauma in Wirklichkeit im Inneren weitergearbeitet hat und dort eine ständige Ursache von Belastung war, die sich nun entweder auf der psychischen oder eben auf der körperlichen Ebene als Erkrankung manifestierte. Kurzfristig gesehen war die Verdrängung zwar gut und erfolgreich, langfristig hat es einen aber den Kopf gekostet!

Hieran sehen wir ebenso den großen Unterschied zwischen der Bedeutung des Begriffs Erfolg und dem, was wir im Deutschen mit dem wunderbaren Wort Gelingen bezeichnen! Der Blick auf dieses deutsche Wort lohnt sich, da es den Begriff „Gelingen“ im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch gar nicht gibt! Dort muß man immer „successful“ sein. Wenn allerdings in einer Kultur ein bestimmter Gedanke gar nicht als Wort greifbar ist, dann kann man auch nicht wissen, was sich mit dem Wort verbindet! Man kann also davon ausgehen, daß man im Englischen gar nicht weiß, was der Unterschied zwischen „Gelingen“ und „Erfolg-Haben“ ist! Hier wird deutlich, wie sehr sich das mitteleuropäische Weltbild von dem der Amerikaner unterscheidet! Wenn ein Kuchen beispielsweise so geworden ist, wie er überhaupt nur werden konnte, dann sagen wir, „er ist gelungen“. Ein Amerikaner würde „it\’s well done“ sagen, „er wurde gut gemacht“! In „es ist gelungen“ liegt quasi der miteingewobene Hinweis, daß man den Erfolg nicht machen kann, sondern daß man lediglich Bedingungen gestalten kann, die es ermöglichen, daß dieses so wird, wie es werden konnte. Intuitiv ist uns also klar, wie ein optimaler Kuchen, ein optimaler Weg auszusehen hat, da offenbar ein implizites Wissen in jedem von uns eingebettet ist, das größer ist als das explizite Wissen.

Interessante Gedanken, aber eigentlich wollte ich ja auf Ihr Metier, die Hirnforschung, zu sprechen kommen …

GERALD HÜTHER: … wir sind doch mitten drin! Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Hirnforschung besteht nämlich darin, daß man sich im Laufe seines Lebens ein bestimmtes Bild von sich selbst und der Welt „zusammenbastelt“, das geprägt ist von Strategien, die irgendwann einmal – aus welchem Grund auch immer – erfolgreich gewesen sind! Die Vorgänge in Japan erschüttern jedoch nicht nur unser Weltbild, sondern stellen uns ebenfalls vor die peinliche Frage, was wir uns denn diesbezüglich bisher für einen Quatsch eingeredet haben. Was hier stattfindet, ist eher ein notwendiger Reifeprozeß, der allerdings mit furchtbarem Leid verbunden ist!

Müssen solche „Lernprozesse“ denn immer mit Leid und Verlust einhergehen? Was muß geschehen, damit sich im Denken des Menschen wirklich etwas verändert?

GERALD HÜTHER: Wenn ein Mensch in einer schweren persönlichen Lebenskrise steckt, dann ist das aus neurobiologischer Sicht sicher keine günstige Situation, um eine innovative Lösung zu finden. Unter solchen Bedingungen springen im Gehirn gewissermaßen immer die archaischen Notfallprogramme an, und man versucht, die Situation mit alten Rezepten zu meistern. Das ist dann das, was man Wiederholungszwang nennt, wenn also Menschen in alte Muster zurückfallen, nicht mehr aus ihrem alten Denken herauskommen. Deswegen ist es auch nicht möglich, aus einer Krise heraus eine Lösung zu finden. Hirntechnisch viel interessanter für eine Problemlösung wäre ein Zustand, in dem man eine permanente innere Unruhe verspürt, die jedoch nicht unweigerlich zum Notstand führt! So eine Konstellation hat man immer dann, wenn man in einem Dilemma steckt! Dilemma bedeutet, ich habe zwei verschiedene Möglichkeiten und kann diese beiden Fälle aber nicht gleichzeitig leben!

Worin liegt denn die Chance eines Dilemmas?

GERALD HÜTHER: Im Unterschied zur Krise besteht die Lösung für ein Dilemma niemals darin, wieder auf alte Muster zurückzugreifen, indem man entweder das eine oder das andere tut! Diese Art von Spannung erzeugt weniger Angst, weniger Aufregung, und man kann sein Gehirn zudem noch gut benutzen. Ein Dilemma ist wahrscheinlich das Interessanteste, was man als Mensch überhaupt erleben kann, da es zur Transformation zwingt! Mehr noch: Wenn Sie mich als Biologen fragen, wann überhaupt Weiterentwicklung möglich ist, dann würde ich antworten: Immer nur, wenn ein Dilemma eintritt, wenn das lebende System in einem Dilemma steckt! Ein Grunddilemma alles Lebendigen ist es zum Beispiel, daß es in einer Welt, die sich ständig verändert, immer so bleiben will, wie es ist! Wir Menschen wollen uns gleichsam ändern und doch auch so bleiben, wie wir sind. Veränderung und Stabilität, Nähe und Distanz, Liebe und Angst; alles, was lebt, ist mit einem Dilemma konfrontiert! Die Auflösung dieses Spannungszustands besteht aber nun nicht darin, daß man noch weiter versucht, so zu bleiben, wie man ist, oder daß man sich noch schneller verändert, sondern daß man etwas findet, das sich von den bisherigen Möglichkeiten unterscheidet!

Nehmen Sie zum Beispiel einen Mann, der sich gleichzeitig von blonden und schwarzen Frauen angezogen fühlt. Hat er eine Freundin mit schwarzen Haaren, zieht es ihn zu der Blondhaarigen hin, „angelt“ er sich eine Blondine, wäre er lieber bei der Frau mit den schwarzen Haaren – die Zeitungen sind voll mit solchen Meldungen! Der Mann hat eigentlich ein Dilemma, doch immer, wenn er sich zur Lösung des Problems für eine Waagschale und damit für die altbekannte Problembewältigung entscheidet, kommt er in eine neue Krise! Die Lösung für unseren Mann wäre die Erkenntnis, daß eigentlich alle Frauen liebenswert sind, daß in jedem weiblichen Wesen alles steckt, was er bereit ist, in ihm zu sehen! Er kann zum Entdecker der Frauen werden, indem er die eine richtig entdeckt! So ein Mann hat sich dann transformiert, er ist ein anderer geworden, weil er nicht mehr von denselben Kräften getrieben ist!

Das ist wahre Entwicklung, alles andere nur Anpassung. Für diesen Entwicklungsprozeß haben wir allerdings keine Denkstrukturen, wir müssen uns intuitiv auf sie einlassen! Wir haben zwar mit dem Darwinismus eine Theorie, die sich mit Entwicklung beschäftigt, in Wirklichkeit handelt es sich hierbei aber vielmehr um eine Spezialisierungstheorie, weil hier nur umschrieben wird, wie unser Mann aus dem Beispiel die beste schwarzhaarige oder blonde Frau bekommt!

Die Evolutionstheorie beschreibt jedoch nicht, wie er ein neues Bild von den Frauen entwickeln kann! Zu so einer Einstellung kommt man ja nicht durch Wettbewerb, Druck oder Anpassung, sondern wenn man zum Beispiel alleine auf einen Berg steigt und dabei sein Leben betrachtet. In so einer Atmosphäre bekommt man durch die Intuition wieder ein Gefühl für sich selbst, und das kann wiederum zu einer beeindruckend kreativen Selbstsicht führen. Die innere Stimme wird ihm dann womöglich sagen, wie beschränkt er doch bisher gewesen ist! Ich denke, in einigen Jahrzehnten werden sich viele Menschen an den Kopf fassen und feststellen, was sie hier auf unserem Planeten für einen Mist gebaut haben! Die frohe Botschaft der Hirnforschung lautet: Selbsterkenntnis und Veränderung sind zu jedem Zeitpunkt möglich! Wir werden unsere Probleme allerdings nur lösen können, wenn wir uns in Zukunft gegenseitig einladen, ermutigen und inspirieren!

So betrachtet ist vieles heute in Wirklichkeit eher ein Dilemma, auch wenn Krise draufsteht! Die Finanzkrise zum Beispiel.

GERALD HÜTHER: Selbstverständlich! Wir nennen das Krise, in Wirklichkeit müssen wir aber auch hier von einem Dilemma sprechen! Bei einer Krise können Sie sich immer nur so verhalten, als sei ein Gleichgewicht aus der Balance geraten. Deswegen legen Sie auf eine der beiden Schalen mehr Gewicht, in der Hoffnung, daß sich die Seiten austarieren. Krisenbewältigung heißt immer nur Wiederherstellung eines verlorengegangenen Gleichgewichtes. Deshalb ist es auch eine fatale Irreführung der öffentlichen Meinung, wenn man das, was eigentlich ein Dilemma ist, eine Krise nennt! So werden in der Bevölkerung Ängste mobilisiert, die es unmöglich machen, gründlich über die eigene Situation nachzudenken. Am Ende rufen dann alle nach den alten Umständen und verlangen damit jenes Gebilde, das genau diejenigen „wollen“, die das Ganze erst als Krise proklamierten! So sehen eben Krisenbewältigungsstrategien aus; man bekommt immer nur mehr vom alten System.

Das Dilemma hinter dieser Krise ist aber, daß wir gleichsam wachsen und stabil sein wollen! So etwas geht natürlich nicht, und daher haben wir für die Finanzkrise auch bisher keine Lösung gefunden! Es kam, wie es kommen mußte und wie es wieder kommen wird, wenn wir das Problem nicht wirklich lösen: der Finanzsektor fliegt uns um die Ohren …

Betrachten wir das Dilemma im Bildungssystem. Wir würden gerne lauter hochkompetente junge Menschen ausbilden, die eine eigene Meinung haben, die authentisch, nicht manipulierbar, demokratiefähig sind. Der Konsum in unserem Land, die Basis unseres Wohlstandes, benötigt aber genau das Gegenteil! An dieser Paradoxie geht im Augenblick unser Schulsystem zugrunde! Der Krisenmechanismus im Schulsystem wird entweder immer nur weitere einfältige Schüler heranbilden, die gute Kunden für irgendwelche Konsumprodukte sein werden, oder man „erzeugt“ intelligente Menschen, die gleich das ganze System, das auf Manipulation angewiesen ist, in Frage stellen!

Sie schreiben, daß innere Bilder Vorstellungen seien, die wir in uns tragen und die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Überliefert werden sie unter anderem in Form bestimmter DNA-Sequenzen …

GERALD HÜTHER: Wir fangen gerade erst an zu verstehen, daß genetische Programme nur die Potentiale bereitstellen für das, was werden könnte. Was sich dann aber letztlich wirklich entwickelt, wird durch die Erfahrungen gesteuert, die das System im Laufe seiner Entwicklungen gemacht hat. Das sind bei Pflanzen unter anderem Interaktionserfahrungen mit der Gravitation und bei Menschen Erfahrungen, die er beispielsweise mit Mitmenschen gemacht hat. Diese Erfahrungen werden immer in Form innerer Bilder angelegt. Überliefert werden diese inneren Bilder auf der Ebene der Zellen in Form bestimmter DNA-Sequenzen, auf der Ebene des Gehirns durch Erfahrungen und auf der Ebene menschlicher Gemeinschaften durch gemeinschaftlich akzeptierte und transgenerational kommunizierte Regeln, Vorstellungen und Rituale. Diese Bilder sind erforderlich, da alles Lebendige eine innere Matrix benötigt, anhand derer es überhaupt Entscheidungen treffen kann. Immer wenn wir vor neuen Herausforderungen stehen, greifen wir in unserem Gehirn also auf innere Muster zurück, die im Laufe des Lebens, der Evolution, durch unsere gemeinsamen Erfahrungen entstanden sind. Die Hirnforscher haben hierbei festgestellt, daß das Hirn zum Beispiel für die Bewegung einer Kaffeetasse zum Mund nicht jeden dafür erforderlichen Muskel einzeln ansteuert. Das innere Bild zum Gedanken „Ich möchte die Tasse zum Mund führen“ genügt, um die darunterliegenden Einzelsequenzen und komplexen muskulären Kontraktionen zu lenken!

So gibt es innere Bilder für Handlungsmuster, für Wahrnehmungsmuster, für Denkmuster und für ganz hohe Bereiche wie die Selbstbilder, in die alles, was man erlebt, eingeordnet wird. Es gibt darüber hinaus auch Weltbilder, in denen sich ganze Kulturkreise mit ihren Sagen, Mythen und geschichtlichen Überlieferungen in Bildern widerspiegeln. Jedes Kind, das in einen Kulturkreis hineinwächst, eignet sich diesen gemeinsamen Bilderschatz an. Bei uns waren das lange Zeit die Grimmschen Märchen. Diese Art Geschichten wirken wie ein mächtiges Band, das die Menschen in den jeweiligen Kulturkreisen zusammenhält. Wenn wir aber unsere Grimmschen Märchen bald alle gegen Harry Potter ausgetauscht haben, dann gibt es irgendwann auch die Identität nicht mehr, die diese Art von Geschichten uns bisher lieferten! Man muß sich also schon klarmachen, daß mit dem Zerfall von bestimmten Bildern auch Kulturen zugrunde gehen können!

Als ich zum ersten Mal ein Interview von Ihnen gehört habe, faszinierte mich der Satz: „Unser Gehirn wird so, wie wir es benutzen!“ Das heißt, wir formen unser Gehirn durch unsere Taten. Ein Satz, der in seiner Tragweite großartig ist, wirft er doch ein ganz anderes Licht auf das Wesen des Menschen, auf das, was er zu verantworten hat, und auf seinen freien Willen.

GERALD HÜTHER: Was Sie zitieren, entstand aus der ersten großen Publikationswelle in den 1990er Jahren, mit der die Neurobiologie populär wurde. Im Zuge dieser Erkenntnis wollten sich plötzlich alle dieses Wissen zu eigen machen und irgendwie in ihr Leben umsetzen. Diesem ungestümen Vorpreschen verdanken wir den Frühförderungswahn und die damit verbundene Vorstellung, man müsse sein Gehirn „trainieren“, weil man es für eine Art Muskel hielt! Diese Ansätze haben alle nichts gebracht und deshalb ist nun eine zweite, viel tiefgreifendere Erkenntnis entstanden, die eine ganz neue Dimension in die Diskussion brachte: Es geht gar nicht darum, wie man sein Gehirn benutzt, sondern wie oder wofür man es mit Begeisterung benutzt!

Die Erklärung dazu ist ganz einfach: Durch die Aktivierung emotionaler Zentren im Gehirn, die mit „Begeisterung“ einhergeht, werden im Gehirn sogenannte neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet. Diese besonderen Botenstoffe regen die dahinterliegenden Netzwerke der Nervenzellen über eine Veränderung der Genexpression dazu an, neue Nervenfortsätze auszubilden. Wir können deshalb ziemlich klar sagen, daß unser Gehirn nicht so wird, wie wir es benutzen, sondern wofür wir uns begeistern, so ein Gehirn bekommen wir auch! Das SMS-Schreiben und die damit verbundene Lenkung der Daumenbewegung ist beispielsweise dafür verantwortlich, daß bei den Jugendlichen in den letzten 10 Jahren eine bestimmte Hirnregion immer größer geworden ist! Bei einem Geigenspieler sieht man, daß er im Gehirn eine Repräsentanz für die Fingerbewegungen ausbildet. Diese entwickelt sich aber nicht, weil er so viel Geige spielt, sondern weil er es gerne macht!

Umgekehrt sieht man bei denen, die man zum Lernen zwingen will, daß sich im Gehirn rein gar nichts verändert! Jetzt hat die Gesellschaft mit dem Begriff der Begeisterung aber ein Problem, da man Begeisterung nicht anordnen, Freude nicht herstellen, nicht machen kann! Begeisterung muß sich im Menschen entzünden. Wenn Lehrer beispielsweise einen Unterricht halten wollen, der tatsächlich zu etwas führen soll, dann müssen sie Bedingungen schaffen, in denen sich die Schüler begeistern können! So etwas findet aber leider nur sehr selten statt.

Genügt denn alleine die Begeisterung des Lehrers, um Schüler adäquat zu fördern?

GERALD HÜTHER: Da muß man differenzieren. Es gibt sehr viele Lehrer, die absolut begeistert von ihrem Fach sind, aber nicht davon, daß sie einem Schüler, der keine Ahnung von Mathe, Englisch oder Geographie hat, die Zauberwelt des Faches erschließen sollen! Um hier etwas bewegen zu können, muß man eben auch den Schüler mögen! Man darf also nicht nur von der Mathematik begeistert sein, sondern vor allem von der Begabung, die in dem Schüler schlummert und die man als Lehrer zur Blüte bringen kann! Die meisten Lehrer verstehen sich leider als Gärtner, die im Denken des vorherigen Jahrhunderts ihre Apfelsinen und Tomaten züchten. Ihre Didaktik und Methodik wird zwar nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen durchgeführt, am Ende kommt jedoch leider nur das Ergebnis heraus, was sie für sich haben wollten! Das ist aber genau das, was die Welt nicht braucht! Wir brauchen keine gut abgerichteten, EU-genormten Jugendlichen, die immer regelkonform funktionieren und gut an das Schulsystem angepaßt sind, in dem sie mit ihrer bulimischen Lernstrategie in kurzer Zeit ganz viel in sich hineinstopfen, um es in der Prüfungssituation schnell wieder herauszuwürgen! Wir stellen im Augenblick fest, daß von dem ganzen Lernstoff, den man den Schülern in den Oberschulen und Gymnasien ohne große Begeisterung beizubringen versucht, nach einer gewissen Zeit bestenfalls noch 10 Prozent übrig bleiben!

Sind diese antrainierten Fähigkeiten nicht genau jene Eigenschaften, die in der PISA-Studie so gefragt sind?

GERALD HÜTHER: Die PISA-Studie ist mir herzlich egal! Sobald Sie das Ergebnis Ihres Unterrichtes auf irgendeine Art messen wollen, erzeugen Sie eine Situation, in der Sie vorgeben, was am Ende herauszukommen hat. Sie erzeugen eine Matrix nach dem Motto: „So hat das zu werden, wenn einer bei uns Abitur machen will!“ Das ist Gärtnerei im alten Stil; Sie schnippeln, stutzen und pflegen so lange an den Schülern herum, bis schließlich alle durch das Maschennetz passen, das Sie vorher aufgespannt haben. Wir brauchten jedoch ganz andere Gärtner, Lehrer, die sich am „Unkraut“ erfreuen und dem „Grün“, das da sprießt, so viel Licht verschaffen, daß es wachsen und sich entfalten kann! So einen Lehrer bekommt man nicht, wenn man ihn durch einige akademische Ausbildungen schickt, sondern wenn man ihn mit der Frage konfrontiert, weshalb er Lehrer werden möchte, ob er überhaupt Kinder leiden kann! Hier paßt das deutsche Sprichwort „Die dümmsten Bauern haben die größten Kartoffeln!“ Das heißt in unserem Fall, daß er mit dem Herzen bei der „Kartoffel“ sein muß und nicht mit dem Kopf!

Freiheit besteht nicht, wie vorausgesetzt, darin, daß man sich von etwas abgrenzt, sondern daß man sich für etwas einsetzt.

Wenn ich mein Gehirn durch meine Handlungen präge, dann stellt sich mir die Frage, was denn dieses Ich ist, wer das Gehirn und seine Gedankentätigkeit letztlich benutzt?

GERALD HÜTHER: Wenn man sich über die Grundfragen noch keine Klarheit verschafft hat, beispielsweise was denn überhaupt Freiheit ist, braucht man doch auch nicht darüber zu diskutieren, ob es Freiheit überhaupt gibt! Wir bauen unser Weltbild teilweise auf Vorstellungen auf, die unhaltbar sind. Viele Hirnforscher haben zum Beispiel die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat, auf einer Definition von Freiheit gebaut, die so abstrus ist, daß es jedem Philosophen die Nackenhaare aufstellt!

Freiheit besteht nicht, wie vorausgesetzt, darin, daß man sich von etwas abgrenzt, sondern daß man sich für etwas einsetzt, wenn man die Freiheit besitzt, aus freien Stücken dafür zu sein. Dies verdeutlicht, daß wir möglicherweise auch ein völlig falsches Bild von dem haben, was wir Ich-Struktur nennen!

Wir im westlichen Kulturkreis gewinnen im Augenblick unser Ego, also die Vorstellung von uns selbst, indem wir uns von anderen abgrenzen. Unser Ego ist somit ein Abgrenzungs-Ich! Als Hirnforscher kann ich da nur sagen, daß wir damit in ein ganz schönes Dilemma hineingeraten sind, da man sich als soziales Wesen unmöglich von anderen abgrenzen kann! Das Ich, das sich aus der Abgrenzung extrahiert, kann nur ungesund und unnatürlich sein, das erleben wir ja tagtäglich. Was wir in unserer Kultur bräuchten, wäre ein Ich, das mit seinen Begabungen zu etwas beitragen kann. Es würde sich ein ganz anderes Ich-Bewußtsein entwickeln, wenn beispielsweise Kinder die Erfahrung machen würden, daß sie mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten tatsächlich zur Rettung unseres Planeten beitragen können. Solche Menschen wären die Grundlage dafür, daß aus unseren kranken Konkurrenzgemeinschaften individualisierte Gemeinschaften erblühen können. Die Fragen nach dem Woher, Wohin, nach einem Geist, einer Seele sind angesichts des allgemeinen Unverständnisses und der heutigen Unschärfe der Begriffe meiner Ansicht nach wenig sinnvoll. Es wird damit vielmehr das Streben des Menschen nach Selbsterkenntnis unterminiert, indem man ihm eine Frage vorlegt, die er erst ganz am Schluß beantworten kann, wenn er den Weg der Selbsterkenntnis weit genug gegangen ist.

Ich stelle die Frage vor dem Hintergrund einer absoluten Dominanz des materiellen Denkens. Es würde doch schon vollkommen genügen, sich das Immaterielle als möglichen Teil unserer Realität vorzustellen. Indem ich sage: „Was ich nicht fassen kann, gibt es nicht“, limitiere ich mich in meiner Sicht und in meinen Fähigkeiten …

GERALD HÜTHER: Ich bin ja auch ganz bei Ihnen, man muß aber die Begriffe in unserer Zeit scharf ausformulieren! Wir sollten uns klarmachen, daß der Mensch ein spirituelles Wesen ist, von Anfang an! Er kann sich in seinem pubertären Größenwahn zwar vorübergehend einbilden, daß er in der Lage ist, alles zu beherrschen und alles zu können, irgendwann kommt jedoch womöglich die Phase, wo er seine eigene Eingebundenheit in der Welt versteht, und zwar nicht als ein leidvolles Schicksal, sondern als eine Chance für seine eigene Weiterentwicklung! Vielleicht ist das die Phase, die wir im Augenblick erleben? Die Zeit wäre auf jeden Fall reif dafür! Ich glaube, daß wir an der Schwelle zu weitreichenden Transformationen stehen, wir sind am Ende einer Ressourcenausnutzungskultur angelangt! Seit es den Menschen gibt, preßt er den Planeten und seinen Mitmenschen wie ein Zitronenpresser aus.

Wir können aber nicht noch mehr Ressourcen ausquetschen, da der Endpunkt erreicht ist. Deshalb müssen wir an einer neuen inneren Qualität arbeiten, aus Zitronenquetschern müssen Zitronenbaumpflanzer werden!

Wir müssen also von einer Ressourcenausnutzungskultur zu einer Potentialentfaltungskultur kommen! Das würde aber heißen, daß Menschen sich nicht mehr auf Kostenanderer individualisieren, bereichern oder ihre Persönlichkeit stärken dürfen, sondern daß die Menschen einander einladen, ermutigen und inspirieren müßten, um ihre Potentiale entfalten zu können. So eine Kultur brauchen sie in der Schule, im Elternhaus oder den Unternehmen, und solche Institutionen gibt es bereits schon; die Evangelische Gesamtschule Berlin Mitte mit Margret Rasfeld oder Götz Werners Drogeriemarktkette dm sind nur zwei Beispiele. Hier arbeiten die Menschen gerne, hier geht man mit Freude zur Schule, hier können sich die Kleinen nichts Schöneres vorstellen, als am nächsten Morgen wieder im Kindergarten zu sein! Aus solchen Institutionen kommen dann auch andere Menschen heraus, Individuen, die wieder Eigensinn entwickelt haben und nicht mehr angepaßt sind. Die zur Entfaltung gebrachten individuellen Begabungen werden in so einem System ganz selbstverständlich zum Wohle aller wieder in die Gesellschaft eingespeist … das ist die neue Welt! Jeder, der einmal angefangen hat, ein Potential zu entfalten, dem es gelungen ist, andere Menschen aufzubauen, zu ermutigen und zu inspirieren, über sich hinauszuwachsen, der läßt davon nicht mehr ab! So einer ist in einem ganz anderen Betriebsmodus angekommen.

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