lebenswertes

Terrence Malicis „The Tree of Life“ – Der Baum des Lebens

Wer ist eigentlich Schuld, wenn man sich das Knie anschlägt, der Wagen vor einem wichtigen Termin nicht anspringt oder wenn zum Beispiel die Hälfte des Rotweins beim Öffnen auf dem neuen Hemd landet? Wem gilt der derbe Spruch, der nach solchen Ereignissen reflexartig über die Lippen tritt, wenn doch niemand weit und breit zu finden ist, der sich mit Absicht gegen einen verschworen haben könnte? Ein spontanes Ventil, sagt man, sei wichtig, da man sonst das Unerklärbare und Unerwartete, das plötzlich ins Leben tritt, nicht ertragen könne. Das stimmt sicher nur zum Teil, denn für viele ist es eine zur Verbitterung verkommene Enttäuschung über eine gescheiterte Beziehung, die sie derart reden läßt, die Enttäuschung über eine Welt, die den Schicksalsschlägen der Kreatur teilnahmslos gegenübersteht und drängenden Fragen mit der immer gleichen Stille entgegentritt! Kann die Welt nicht antworten, weil sie einfach nur kalter, unpersönlicher Biologie entspringt – oder geschieht auf den Lebenswegen des heutigen Menschen vielmehr etwas, das ihn unfähig macht, wie auch immer geartete Antworten nachzuempfinden?

Die Vehemenz jenes „Wutreflexes“ verdeutlicht sich an der Größe des geahnten Verlustes; denn liegt nicht trotz aller Zweifel tief in jedem Menschen die drängende Sehnsucht nach Zwiesprache mit hehren Kräften begraben, nach einem Dialog jenseits menschlicher Kommunikationsformen? Wie oft verharrt der durch Leid und Glück vom Gedankenwahn unserer Zeit gelöste Mensch instinktiv vor den rauschenden Blättern eines sich im Herbstwind wiegenden Baumes, gibt sich dem in Wimpern verfangenen Frühlingslicht hin, schürft versunken im Silberreim eines verträumten Baches oder blickt auf den galanten Reigen des Sternentanzes hoch oben am Firmament? Über alledem schwingt heiß der Wunsch, die weise Kraft, die all dies nordet, den Dingen oben und unten schenkt und das Innerste dabei wärmend durchflutet, in innigem Dialog in sich zu beheimaten! Keine lauten Argumentationen herrschen hier im Seelenhort, wo beide Welten verschmelzen, sondern zarte Hinweise, eingebettet in berührenden Momentaufnahmen, Bilder, die sich wie Lettern zu verheißungsvollen Hinweisen formen – ein Panoptikum an Eindrücken, gespeist aus tausend Quellen!

Der Zwiespalt zwischen dem in einem starren Weltbild verankerten Denken, das jegliches Einwirken von außen nur als blindes Walten des Schicksals verkennen kann, und der im Gegensatz dazu so köstlichen Kraft inneren Empfindens, die in so manchem Naturerleben jene belebte Welt jenseits starrer Formen erahnen läßt, treibt den Menschen dieser Epoche zur schieren Verzweiflung. Ein Zwiespalt, der allerdings nicht sein müßte, würde man sehen, daß der unbedingt an die Vergänglichkeit des Stoffes gebundene Verstand, mit dem man sich heute vorwiegend orientiert, unbedingt versagen muß, wenn man mit ihm die Fragen verstehen möchte, die außerhalb von Raum und Zeit liegen! Die Erkenntnis, nach der der strebende Mensch trachtet, ergießt sich vielmehr in wortloses und demutsvolles Wahrnehmen, dem das Bestreben fehlt, die eigene, explizite Welterklärung entgegensetzen zu wollen. Das Axiom, das also letztlich jeglicher Zwiesprache vorangeht, der Begriff, dem – Hingabe und Pflege vorausgesetzt – die Realität folgen muß, lautet schlicht: im All herrscht eine bewußte und gütige Kraft, die sich im Empfinden wahrnehmen läßt … oder einfacher noch: Gott ist!

Der Versuch, den 2011 beim Filmfest in Cannes uraufgeführten Streifen „The Tree of Life“ (Der Baum des Lebens) zu umreißen, ist kein leichtes Unterfangen, bricht doch das umstrittene zweieinhalbstündige Epos, das am Ende trotz der gespaltenen Publikumsreaktion aus Jubel und Buhrufen mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, mit allen Sehgewohnheiten, ist also weder chronologisch aufgebaut, noch basiert die Dramaturgie auf irgendwelchen nennenswerten Dialogen seiner Protagonisten. Statt dessen kombiniert der australische Ausnahmeregisseur Terrence Malick suggestive Bilder mit gebetsartigen Selbstgesprächen und den geflüsterten Fragen seiner Hauptfigur, die in ihrer Gesamtheit wie Erinnerungsfragmente wirken, wie meditative Sequenzen inneren Schauens.

Dreh- und Angelpunkt dieses cineastischen Universums, die Keimzelle also, in der sich ein gemeinsamer Nenner zwischen den Begebenheiten des Alltags und dem großen kosmischen Geschehen finden soll, verfrachtet Malick in einen biederen texanischen Vorort der 1950er Jahre. Die Weltbilder der hier lebenden Mr. und Mrs. O’Brien könnten unterschiedlicher nicht sein, denn während der Herr des Hauses – ein erfolgloser Ingenieur – aus Enttäuschung über seine bisherige Lebensleistung einem nüchternen Darwinismus, also Kampf und Durchsetzungswillen, verfallen ist und diesen mit viel Härte besonders seinen Kindern abverlangt, versprüht die treu sorgende Ehefrau grenzenloses Vertrauen, Leichtigkeit und bedingungslose Liebe. Es gibt zwei Wege durchs Leben, hört man Jack an einer Stelle aus dem Off sprechen, den der Natur und den der Gnade. Die Natur ist herrschsüchtig und egoistisch, die Gnade duldsam und ohne Eigennutz. Diese sich konkurrierenden Lebensauffassungen, die sich im männlichen und weiblichen Wirkprinzip manifestieren, setzen in ihrer Verschiedenartigkeit besonders dem ältesten Sohn Jack zu, der, in die Pubertät kommend, nach Identifikation und Orientierung sucht.

Einen großen Anteil an der Intensität und Intimität des Streifens hat vor allem die hervorragende Schauspielerriege. Die in „The Tree of Life“ brillierenden Routiniers Brad Pitt und Sean Penn teilen sich dabei die Aufmerksamkeit mit der relativ unbekannten, aber nicht weniger eindrucksvollen Jessica Chastain und dem Nachwuchsstar Hunter McCracken. Wie man lesen kann, hat Malick eine sehr intuitive Art zu drehen, das heißt, viele Szenen seien erst am Tag des Drehs mit den Darstellern erarbeitet worden. Entsprechend natürlich und homogen wirken sie, fast als hätte man das Material aus dem Fundus einer realen Familie entliehen …

Der Film beginnt mit idyllischen Bildern, in denen auf sehr berührende Art und Weise wichtige Stationen der Familie O’Brien zu sehen sind. Weiches Licht verfängt sich im Haar der Ehefrau, sie umarmt liebevoll ihren Mann. Eine wundervolle Metapher verdeutlicht das Geschenk des in der Mutter einkehrenden Lebens. Die Erinnerung wechselt. Die Familie ist mittlerweile angewachsen, drei Jungen rennen durchs Bild, lachen beim Spiel, necken die Mutter, man betet gemeinsam zu Tisch, man liegt zärtlich beieinander, träumt im Schoße der Natur, Kuß und Jod versorgen Blessuren. Dann ein eigenartiger Blick auf den geliebten Sohn – irgendwie ahnt der Cineast, wie fragil dieses ganze Familienglück doch ist. Schnitt. Zwischen den im Film hintereinanderliegenden Szenen sind in Wirklichkeit viele Jahre vergangen. Ein Postbote klingelt an der Tür und übergibt Mrs. O’Brien einen Brief mit einer schrecklichen Nachricht: der jüngste Sohn ist mit gerade einmal 19 Jahren ums Leben gekommen! Ein Schock, der die Welt für alle Hinterbliebenen plötzlich in einem anderen Licht erscheinen läßt.

Die Verarbeitung dieses Todes, sein Einbetten in das eigene Weiterleben und die Verortung des Ereignisses in einen größeren Sinnkontext ist es von nun an, die in jedem Bild verwoben ist. Die so reine Muttergestalt, die bisher frei von Zweifeln gewesen war, wird durch den Tod ihres Sohnes in ihren Grundfesten erschüttert, sie erschrickt vor der bisher unbekannten Facette einer ihr fremden, selbstbezogenen Natur. Besonders hart trifft der Schicksalsschlag jedoch Jack, den ältesten Sohn der Familie. Nach und nach zeigt sich, daß die Erinnerungen – die Stimme aus dem Off, die nach dem Warum jenes Todes, dem Sinn des Lebens fragt – Jack gehören. Der mittlerweile erwachsene Stararchitekt leidet Jahrzehnte nach dem Schicksalsschlag noch immer unter dem Trauma, das sein Leben so schrecklich überschattete, und sucht, wie nun klar wird, in diesen Rückblenden nach Hinweisen, nach Antworten, die ihn vielleicht mit dem Leben versöhnen könnten. Der Streifen ist nun sozusagen ein Blick aus der Seelenperspektive dieser Person, Momentaufnahmen voll geballter Erinnerung und wichtiger Sinnfragen.

Mitten in diese bedrückenden Erinnerungen setzt Malick nun einen genialen Impuls, der das Streben des Individuums mit dem großen Schöpfungswirken verbinden und die Sehnsucht, die Welt möge ihr Schweigen brechen, stillen könnte. Das Resultat ist eine etwa zwanzigminütige und dabei fast wortlos dargebotene Interpretation der Genesis in atemberaubenden Bildern! Von „Es werde Licht!“ bis zur Entstehung unseres Planeten, die Trennung von Himmel und Erde und das Auftauchen der ersten Lebensformen; Malick macht den Zuschauer zum Zeugen des Schöpfungsaktes, und was er in Bilder gießt, ist inspirierend und voll existentieller Wucht!

Als der erwachsene Jack in einer surrealen Jenseitsszene an einem Sommertag am Meer auf seine Eltern und seinen geliebten Bruder trifft, findet der Streifen ein versöhnliches Ende. Diese Momente der Einheit und wortlosen Aussprache erstrahlen in einem wundervollen Licht, das den bisherigen Erinnerungen Jacks abhanden gekommen war. Die wahre Herausforderung, das wird hier klar, ist es, die hellen Momente der Erkenntnis, wenn die Welt in verheißungsvollem goldenem Licht erstrahlt und sich der Zwiesprache öffnet, stetig in die Zeit hineinwachsen zu lassen. Terrence Malick schafft es mit dieser faszinierenden Art des Erzählens, ein Ahnen zu vermitteln, wie diese schmerzhaft vermißte Zwiesprache, das geheime Gebet, sich anfühlen könnte, das der Jetztzeit abhanden gekommen ist.

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