lebenswertes

Yōjirō Takita „Nokan“ – Die Kunst des Ausklangs

Ein Diskurs über den Tod im allgemeinen oder, schlimmer noch, die Reflexion über die eigene Vergänglichkeit, kann sich bisweilen als komplizierte bis deprimierende Angelegenheit entpuppen, denn wie jedes Geschehen, das man irgendwie beleuchten und verstehen möchte, bedarf es auch beim Forschungsobjekt Tod wenigstens einer eigenen Erfahrung. Doch woher Erfahrung nehmen, wenn nicht gleich sterben!? Ironie des Schicksals: als Mensch macht man eben nur einmal Bekanntschaft mit dem Tod, und meist ist nach diesem tiefgreifendsten aller Erlebnisse die Möglichkeit der konventionellen Berichterstattung oder des Gedankenaustausches nicht vorhanden. Nimmt der Mensch jenes kostbare Geheimnis hinter der Schreckensmaske der Vergänglichkeit also zwangsläufig mit sich? Oder kann man doch schon zu Lebzeiten etwas über die „Terra incognita“ in Erfahrung bringen?

Ein kühner Blick in das Wechselspiel der Formen genügt, um zu erkennen, was uns Leben und Tod seit Anbeginn der Zeit entgegenflüstern: Du bist jenseits dieses Formenwandels, jenseits der Ummantelung – erkenne dein wahres Wesen! Kette dich nicht an die Welt des Wandels, sondern betrachte das Werden und Vergehen lediglich als Grundmomente der irdischen Existenz, die dem nach Bewußtsein strebenden Geist nur als farbenfroh pulsierendes Lehrstück dienen soll! Genau betrachtet, ist nämlich jeder Tag geprägt durch Kreisläufe, denen Anfang und Ende innewohnen; der Tod ist dem profunden Blick mitnichten ein einmaliges Phänomen, das sein Geheimnis despotisch verwahrt, sondern er geschieht ununterbrochen in und um uns herum, hilft uns das Leben verstehen, wenn … wir aufrichtig zu fragen wagen und die uns gegebene Zeit auf Erden mutig in diese Endlichkeit spannen.

Wer die Zeit zwischen Geburt und Tod als kurze Teiletappe eines weit umfassenderen Seins begreifen lernt, überwindet die ihn heute durch das materielle Denken bedrückenden Limitationen … „und solang du das nicht hast, dieses: Stirb und werde! bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde“. (Goethe)

Vielleicht kam Regisseur Yōjirō Takita die Idee zu seinem 2009 ausgestrahlten und in Folge mit dem Auslands-Oscar prämierten Film Nokan, als er, wie Millionen anderer Japaner, an einem der unzähligen Bahnhöfe des Landes auf den Zug wartete und tief versunken im zeitrafferartigen Kommen und Gehen der Reisenden plötzlich eine vielversprechende Analogie entdeckte: Hier nimmt der Zug Menschen mit, trennt sie für ein neues Ziel, und dort führt er sie nach langer Reise wieder zusammen. Ankunft, Abfahrt und wieder Ankunft! Der Bahnhof als Metapher für die Gezeiten des Lebens verdeutlicht schnell, daß nur eines im steten Wandel dieser Durchgangsstation von Dauer ist: die Begegnungen am Bahngleis!

Darum: Wohl dem, der auf seinen Reisen von Menschen begleitet wird, die ihn aufrichtig lieben, denn ohne diese Begegnungen wäre jener Transitraum, sprich die irdische Wirkstätte, nichts weiter als ein karges Niemandsland!

Ganz gleich, wie dem Filmemacher der maßgebliche Impuls für seinen Streifen zuteil wurde, letztlich gelang ihm der Kunstgriff, das aus einem lichten Moment geborene Gleichnis über Werden und Vergehen in eine wundervolle Geschichte zu übersetzen, die im Falle von „Nokan“ aus der Warte eines sensiblen Leichenbestatters erzählt wird. Um zu wissen, was der Regisseur damit in Angriff nahm, muß man vorausschicken, daß im Land der aufgehenden Sonne das Sterben ein absolutes Tabuthema ist. Selbst Berufsgruppen, die in ihrer Arbeit den Tod nur leicht tangieren, gelten als unglückbringende Außenseiter, und um so mehr die Kaste der Bestatter. Doch obwohl der Tätigkeit dieser „Zeremonienmeister des Ausklangs“, abgesehen von dem Leichenabtransport, eigentlich nur symbolischer Wert beigemessen werden kann, baut die japanische Gesellschaft auf die Dienste ihrer Parias. Das Land der tausend Rituale sieht eben auch für den letzten Gang eine aufwendige Inszenierung vor, die darin besteht, den leblosen Körper im Beisein der Familie zum Abschied noch einmal aufwendig in altem Glanz erstrahlen zu lassen. –

Als der Cellist Daigo Kobayashi (Masahiro Motoki) nach der Auflösung seines Tokioter Orchesters hochverschuldet und desillusioniert in seine Heimatstadt Sakata im bergigen Norden Japans zurückkehrt, ahnt er auf der Suche nach einem neuen Job nicht, daß die mysteriöse Zeitungsanzeige eines – so seine Mutmaßung – „Reisebüros“ sein Leben von Grund auf verändern wird. Wie sich bald herausstellt, verbirgt sich hinter der ominösen Annonce mit dem Titel „Hilfe bei der Reise“ ein Bestattungsinstitut, dessen Besitzer in der Not, überhaupt einen Mitarbeiter zu finden, auf diese doch sehr „kreative“ Umschreibung des anrüchigen Metiers zurückgreift. Natürlich zuckt auch Herr Kobayashi zunächst angewidert zusammen, als er beim Vorstellungsgespräch schließlich die Wahrheit über die vakante Stelle erfährt, doch angesichts eines hohen Gehaltes willigt der junge Mann gegen sein anfängliches Unbehagen ein und beginnt an der Seite des abgebrühten, aber nicht unsympathischen Chefs Shōei Sasaki (Tsutomu Yamazaki) das alte Ritual der „Leichenaufhübschung“. Aus Angst vor sozialer Ächtung und den Reaktionen seines Umfeldes läßt der Ex-Cellist unter anderem auch seine Ehefrau über die wahre Natur der neuen Tätigkeit im Unklaren, zettelt mit seinen Lügen jedoch ein anstrengendes Doppelleben an, das ihn im extremen Frontverlauf zwischen dem Lager der Toten und dem der Lebendigen zu zerreiben droht.

Die nun folgenden „Dienstfahrten“ des Duos führen ohne Rücksicht auf die im Denken der japanischen Zuschauer verankerten Tabus in alle möglichen Gesellschaftsschichten. Ob arm oder reich, jung oder alt, Buddhist oder Christ, alle sieht man in Takitas Film fragend daliegen. Bei alledem bleibt „Nokan“ jedoch ehrlich und zeigt nicht nur die schönen, harmonischen Abschiedsrituale. Oft genug führt der Weg der schwarzen Kombilimousine zu heillos trauernden, tief zerstrittenen Familien, zu harten, schockierenden Abschiedsszeremonien, die manchmal gar im offenen Disput oder in Handgreiflichkeiten enden! Wie überall auf der Welt, so versäumen auch die Hinterbliebenen in und um Sakata, wichtige Gedanken zu Lebzeiten des Verstorbenen zum Ausdruck zu bringen und längst überfällige Liebesbekundungen rechtzeitig aus dem Kerker ihres verhärteten Herzens zu befreien. So drängen sich schließlich die vielen unausgesprochenen Sätze, angestauten Gefühle und das verzehrende, weil unmögliche Bedürfnis nach augenblicklicher Versöhnung, nach Vergebung, in einen viel zu kleinen Raum, um sich dann teilweise explosiv, teilweise aber auch in reinigenden Tränen der Reue ihren Weg aus dem verkrusteten Seelenpanzer zu bahnen.

Begleitet werden die Momente der Erkenntnis von Joe Hisaishis wundervoller Musik. Besonders das überaus schöne Titelthema, eine einfache, vom Cello getragene Melodie, wirkt in so mancher Szene wie eine wunderbar tröstende Handreichung der Liebe. Masahiro Motokis Spiel am Cello wirkt übrigens auch deshalb so glaubwürdig, weil er, wohlmöglich in einem Anfall von japanischem Perfektionismus, dieses Instrument extra für seine Rolle erlernte! „Nokan“ schuldet seine Klasse nicht zuletzt dem Umstand, daß alle Darsteller sich mit dem Thema Sterben beschäftigten und hierfür beispielsweise trauernde Familien aufsuchten oder sich auch die Handgriffe der Leichenbestatter aneigneten. Eine beeindruckende Leistung, die das Ensemble selbst vor dem ernüchternden Hintergrund darbot, daß ihr Film in Japan unbeachtet bleiben könnte. „Nokan“ avancierte jedoch im Gegenteil – und zu Recht – zu einem der erfolgreichsten Streifen der japanischen Filmgeschichte!

Auf der Brücke stehend und auf den alljährlichen Kampf der Lachse im Fluß blickend, entspringt Herrn Kobayashi die Frage, wieso die Tiere solche Strapazen auf sich nehmen, nur um am Zielorte angekommen zu sterben. Die lapidare Antwort einer zufällig vorbeilaufenden Person: „Weil sie nach Hause wollen!“ Es sind solche knappen, zen-artigen Weisheiten, die in ihrer spielerischen Einfachheit verblüffen, bewegen, anregen und dabei auch den immensen Tiefgang des Streifens verdeutlichen. Zu seiner Überraschung wird der Zuschauer nach diesem Film Frohsinn und Freude in sich bemerken und dabei erkennen, daß es am Ende gar nicht um das Ende, sondern immer nur um das wunderbare und unauslöschbare Leben geht!

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