lebenswertes

Michael Abtes „Nell“ – Ein Wolfskind

Der leidgeprüfte Medienkonsument unserer Tage kennt sie gut, jene schrecklichen Fernsehbilder von eingepferchten, verängstigten oder schwer neurotischen „Nutz“tieren, die in den Zuchtanlagen der Lebensmittel- oder Pelztierindustrien unwürdig dahinvegetieren. In einer lebensverachtenden Ökonomie, welche jedes Maß, jeglichen ethischen Kodex verloren hat und dabei sinnfrei und trunken von einer Umsatzzahl zur nächsten taumelt, wird die arme Kreatur respektlos ausgeschlachtet, ohne die hütende Hand des Menschen oder gar dessen Liebe je gekannt zu haben! Wirtschaftlichkeit ist das neue Zauberwort und Wachstum der plumpe Indikator für Glück und Zufriedenheit! Was auch immer mehr ist, wird automatisch gut, weniger ist böse! Diese einfältige und willkürliche „Zahlenmystik“ entkoppelt den Menschen vollends von der Natur, da sie das kreatürliche Schicksal stets chiffriert und die untrennbare Verantwortung für die Schöpfung somit leichter Hand wegzaubert. Wer sich an so erfolgreiche Dokumentarfilme wie „Darwins Alptraum“ oder „We Feed the World“ erinnert, der wird auch schnell wieder die passenden Bilder vor Augen haben, die jene Entfremdung des Menschen von der Natur und dessen Hang nach einer „Verdingung“ der belebten Umwelt aus pekuniären Gründen so treffend wiedergeben …

Angesichts eines solch erbärmlichen „Lebensentwurfes“, der für das Tier nur die industrielle Massenhaltung mit anschließender Verarbeitung zu Kleidung, Nahrung oder Luxusartikeln vorsieht, verwundert es nicht allzu sehr, daß unsere Mitgeschöpfe zunehmend an der Trostlosigkeit dieser Welt erkranken. Die Liste der Tierneurosen reicht dabei vom wilden, monotonen Kreisen in viel zu engen Käfigen über das autoaggressive Rupfen des eigenen Haarkleides bis hin zum gegenseitigen „Zerrupfen“ oder gar kannibalistischen Tendenzen.

Erinnern uns diese morbiden Verhaltensmuster aber nicht frappierend an unser eigenes Leiden und Unglück, an den ständig wachsenden Katalog menschlicher Neurosen? „Rupfen“, malträtieren oder verstümmeln Menschen nicht auch ihre Artgenossen oder gar sich selbst? Rennen wir nicht ebenfalls rastlos und gehetzt im Kreise herum, unfähig, den Augenblick zu lieben, da wir mit dem Schuft der Vergangenheit hadern und an dem Helden von morgen bauen? Ist im Käfig namens „menschliche Kultur“ das Interieur nicht genauso resonanzlos gegenüber innerer Sehnsucht, wie es in dem sterilen und pragmatischen Industriebau eines Mastbetriebes der Fall ist?

Feingefühl in brenzligen Situationen; Natasha Richardsonte überzeugt als ehrgeizige Verhaltensforscherin.
„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“ (Rilke) Vielleicht sind auch wir zu Gefangenen geworden, zusammengetrieben und eingepfercht unter unwürdigen Lebensbedingungen, die krank machen, und einem deprimierenden, weil sinnlosen Wertesystem ausgesetzt, das nur die Höhe einer nichtssagenden Zahl anbetet und uns in einem Dauerbombardement von Belanglosigkeiten letztlich zum willfährigen Handlanger eines leblosen Prinzips degradiert?

Die Abkehr und die Entfremdung von der Natur mit dem einhergehenden Verlust menschlicher Werte und des vertrauenstiftenden Eingebettetseins in eine höhere Ordnung ist selbstverständlich auch ein großes Thema vieler heutiger Filme. Robert Zemeckis’ Meisterwerk „Cast Away“ exemplifiziert dies beispielsweise mit einem auf einer einsamen Insel havarierten und todunglücklichen Tom Hanks sehr eindrucksvoll. Völlig anders stellen sich die Voraussetzungen bei dem 1994 verfilmten Streifen „Nell“ dar, der seine Grundidee dem Theaterstück „Idioglossia“ von Mark Handley verdankt. Während Zemeckis die Idee des traumatischen „Einbruchs“ der Natur in das Leben eines „degenerierten Großstadtgewächses“ inszeniert, zeigt Regisseur Michael Apted in Nell den jähen Einzug der Moderne in die Seele eines gänzlich unsozialisierten, aber gütigen und gemütvollen Wesens!

Als „Idioglossie“ bezeichnet man in der Psychologie eine eigentümliche Art von „Privatsprache“, die für Außenstehende nicht zu verstehen ist und wegen ihrer fehlenden Kehl- und Gaumenlaute eine aufsehenerregende Phonetik aufweist. In der Drehbuchadaption von William Nicholson begegnen wir in diesem Streifen einer jungen Frau, die in eben solch einer geheimnisvollen wie anrührenden Sprache spricht, da sie von Geburt an nichts anderes als die „Fehllaute“ ihrer nach einem Schlaganfall einseitig gelähmten und deshalb sprachgestörten Mutter zu Gehör bekam. Unter diesen Umständen führt Nell Kellty, dargestellt von der gewohnt brillanten Jodie Foster, zwei Jahrzehnte mit ihrer tiefgläubigen und behinderten Mutter ein abgesondertes Eremitendasein, weit entfernt von jeglicher Zivilisation, in den reizvollen Wäldern der Smoky Mountains. Niemand weiß von der jungen Frau. Als ihre Mutter aber eines Tages stirbt, wird sie entdeckt und erfährt einen schockierenden Erstkontakt mit der fremden Kultur. Wie sich herausstellen wird, hat Nell aber Glück mit ihrer ersten Begegnung, da der zuständige Arzt Dr. Jerome Lovell (Liam Neeson) das notwendige Feingefühl für die brenzlige Situation der verstörten Frau mitbringt und trotz des chaotischen und auch handgreiflichen Zusammentreffens sehr einfühlsam bleibt. Nachdem sich der erste Schock der außerordentlichen Begegnung zweier Welten in beiden verflüchtigt, macht sich im Arzt eine große Neugierde sowie eine liebevolle und rein platonische Anziehung breit, da etwas von Nell auszugehen scheint, das ihn zutiefst berührt.

Man versteht nichts … und doch alles … und erblickt sich unerwartet inmitten seiner eigenen Tränen, die in entlastende Gelöstheit münden.

Die unglaubliche Nachricht von einem „Wolfskind“, das sich in einer mystischen Ursprache artikuliert und seit jeher einsam in der Blockhütte am fernen Waldsee lebt, macht verständlicherweise schnell die Runde und ruft dabei neben einer Schar von Journalisten auch Vater Staat auf den Plan, der das angeblich kindliche und unmündige Wesen unter seine beschützende Obhut stellen möchte. Deshalb wird die ehrgeizige Verhaltensforscherin Dr. Paula Olsen (Natasha Richardson) für diesen wichtigen wissenschaftlichen Präzedenzfall aus der Landeshauptstadt abberufen. Das Institut der Psychologin macht jedoch von Beginn an klar, daß man in Nell eher ein äußerst seltenes Forschungsobjekt denn ein zu resozialisierendes oder ein hilfsbedürftiges Wesen sieht! So verwundert es auch nicht, daß man die junge Frau so schnell wie möglich in die geschlossene Abteilung des Krankenhauses verfrachten möchte. Diese drohende Zwangseinweisung scheitert allerdings vorerst am massiven Intervenieren des impulsiven Dr. Lovells, für den die seziererische Handhabung eines Menschen ein rotes Tuch ist. Der Fall landet schließlich vor Gericht, das den Streitparteien lediglich drei Monate Zeit einräumt, um plausible Argumente für oder gegen eine Einweisung darzulegen.

Lovell und Olsen zögern nicht lange und quartieren sich in der Nähe von Nells Blockhütte ein, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. Es wird schnell klar, daß die beiden Streithähne im Schoße einer herrlichen Natur und der wunderbar feinfühligen wie versöhnlichen Art Nells zueinanderfinden, sich liebenlernen und fortan miteinander an dem geheimnisvollen Fall arbeiten.

Während Dr. Olsen Kamera und Mikrofon, also die Fernobservation bevorzugt, sucht Dr. Lovell das persönliche „Gespräch“ mit Nell – und genau diese Unterhaltungen haben es in sich! Das Kuriose hierbei ist nämlich, daß Nell durch ihre schiere Ausdruckskraft wie mit Zauberhand nicht nur viele Charaktere des Films aus Stagnation und Angstzuständen befreit; die „heilende Kraft“ wirkt in ihrer subtilen Form auch auf den Zuschauer, der von der „televermittelten“ Urtümlichkeit nur ergriffen sein kann! Nells Art ist dabei gleichsam schutzbedürftig und fordernd, zerbrechlich und majestätisch – ein Mysterium, das von allem auszugehen scheint, dessen Willen ohne das Störprogramm eines aufgeblähten Egos in ein höheres Schöpfungsprinzip eingebettet ist. Maßgeblich für diese wundersame Fernwirkung auf den Cineasten sind selbstverständlich auch die sensiblen Bilder Dante Spinottis und deren geradezu symbiotische Verbundenheit mit der klugen Filmmusik von Mark Isham! Man achte dabei auf die großartigen Schlüsselszenen der Kontaktaufnahme Nells vor dem Spiegel „Maa, Taa, Tschikabee …“ oder der „Inthronisierung“ Dr. Lovells zum stolzen „Schuenga“ – Nells „Schutzengel“. Kamera, Lichtführung, die Durchzeichnung der Schauspieler-Silhouette – eine atemberaubende Meisterleistung zweier großartiger Künstler, deren Mühen im Film leider zu oft als anonymes Kleinod untergehen und nur im undifferenzierten Gesamteindruck Spuren hinterlassen wird! Wer, nebenbei bemerkt, die deutsche Version mit der englischen Originalfassung vergleicht, wird von der großartigen Synchronisationsarbeit des Übersetzungsteams begeistert sein! Das Team schafft dabei ein eigenständiges deutsches Pendant, das Nells Lautmalerei punktgenau auf die Lippen legt.

Jodie Fosters Darbietung eines Naturmenschen, der durch seine Gedankenreinheit eine grandiose Sicht in den strahlenden Kern der menschlichen Natur freigibt, ist dermaßen gelungen und glaubwürdig, daß man als Zuschauer häufig das Gefühl bekommt, etwas Wertvolles, von dessen Verlust man ausgegangen war, sage urplötzlich „Hallo“! Das kann irritierend sein, da man des öfteren auf Nells chiffrierte Sätze genauso reagiert, wie die problembehafteten Großstadtkinder, die der Film zeigt: man versteht nichts und doch alles, erblickt sich unerwartet inmitten seiner eigenen Tränen, die in eine entlastende Gelöstheit münden und die Augen öffnen für die alltäglichen Wunder des Lebens!

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