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Hinter dem Horizont – Das Ende ist nur der Anfang

Woher kommen wir? Was ist gut und was ist von Übel? Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod? Und wenn ja, wohin gehen wir dann? Seit Menschen miteinander sprechen können und sich ihres Daseins bewußt sind, haben sich aus den Brennpunkten des Lebens Sinnfragen kristallisiert, welche man auch gut die „Klassiker der Kommunikation“ nennen könnte. Wer nun seine hiesige Videothek nach einem zugleich fundierten wie unterhaltsamen Film über eben diese Klassiker durchforstet, der wird schnell feststellen, daß er sich auf ein schwieriges und mühsames Unterfangen eingelassen hat. Entweder trifft er auf „Actionreißer“, die mit naiven Gespenstergeschichten und viel Trickeffekten schocken wollen, oder er findet Kitschwerke, die bar jeder Logik eine zweifelhafte Moral zelebrieren. Doch verwundert dieser Zustand nicht allzusehr, betrachtet man den Niedergang des menschlichen Kulturschaffens bis zur Moderne. Wo soll denn eine fundierte Idee zum Beispiel über den Tod oder das Jenseits ihren Niederschlag in einem Drehbuch finden, wenn die halbe Welt in einem Wertevakuum lebt und einen Daseinszweck generell negiert? Wer das Ziel nicht kennt, kann den Weg nicht haben, und wenn Filmemacher nicht über den Tellerrand materieller Erklärungen sehen wollen, endet jegliche Vision für den Zuschauer in plumper irdischer Materialisierung – etwa indem uns ein wie auch immer geartetes ewiges Leben als Computermischwesen oder Klonreplik in Aussicht gestellt wird.

Es scheint, daß die letzten großen Fragen heute nicht mehr ernsthaft gestellt werden, also sachlich, in existentieller Brisanz und mit Mut, sondern daß diese Fragen zur Gesinnungsetikette oberflächlichster Art degenerieren, die durch die andauernde materielle Deklinierung jeglicher Signalwirkung für den Geist beraubt wurden! Um so erfreulicher und ganz gegen den Zeitgeist gerichtet ist die cineastische Interpretation der Frage „Wohin gehen wir?“ im 1998 erschienenen Streifen „Hinter dem Horizont“. R. Matheson, Autor des zugrundeliegenden Romans, thematisiert nicht nur eindrucksvoll, daß der Tod auch einen Sinn hat, er gibt uns zudem einen möglichen Ansatz, wie es nach dem Ablegen der irdischen Hülle jenseits materieller Vorstellungen weitergehen könnte!

Wer Mathesons Buchverfilmungen wie zum Beispiel den „Omega-Mann“, „Duell“ oder „Die unglaubliche Geschichte des Mr. C.“ kennt, kann sich der Annahme nicht erwehren, daß der Autor ein radikaler Grenzgänger feinster Art sein muß, der seine unorthodoxen Geschichten wie den sprichwörtlichen Wolf in ein meist gutbürgerliches, harmloses Milieu verpackt, um sich so der braven Kinoherde zu nähern! Aus solch profanen Alltagssituationen extrahiert er nun elegant das Selbstverständnis seiner darein verwobenen Charaktere, um deren Moral exemplarisch auf den Prüfstand zu stellen und schonungslos, in aller Konsequenz bis zum letzten extremen Kontrastverhältnis durchzuspielen! Die daraus resultierenden unterschwelligen Fragen bringen Zweifel an den Denkschablonen unserer Wunsch- und Gewohnheitswelt, auch, weil Matheson seinen Kino-Geschichten nicht ein einfaches Happy-End überstülpt, sondern die Zuschauer in bester philosophischer Manier mit Verwunderung und Nachdenklichkeit entläßt.

Annie aber nimmt sich in ihrer Verzweiflung das Leben.
„Hinter dem Horizont“, ein Spätwerk Mathesons, ging aus der intensiven Auseinandersetzung über die Jenseitsvorstellungen verschiedener Religionen hervor. Demnach ist die physische Welt nur ein kleiner Teil im imposanten Schöpfungswerk, und der Körper des Menschen lediglich ein Werkzeug des immateriellen, geistigen Wesenskerns. Himmel und Hölle schafft sich der Mensch durch sein Wollen, Denken und Wirken selbst. Am „obersten Ende“ unvorstellbar großer und wundervoller Schöpfungsebenen gibt es ein Reich in Gottes Nähe, das Paradies, das zu erreichen das höchste Ziel des Menschen ist. Dagegen kann unser Denken und Wollen auch schreckliche jenseitige Ebenen schaffen, die den Menschen gefangenhalten und aus denen zu entrinnen viel Kraft, Einsicht und auch Liebe der Mitmenschen nötig ist. Auf diesem Unterbau entwickelt Ron Bass, der Drehbuchautor, die filmische Handlung.

Chris Nielsen (Robin Williams), ein erfolgreicher Arzt, lernt auf einer romantischen Reise die attraktive Künstlerin Annie Collins (Annabella Sciorra) kennen. Das Paar heiratet, bekommt zwei Kinder und führt ein harmonisches Leben in vorbildlicher Liebe, bis … eines Tages durch einen tragischen Autounfall beide Kinder ums Leben kommen und alles Vertraute ein jähes Ende findet. Annie macht sich schreckliche Vorwürfe, da sie an jenem Tag den Wagen nicht selbst gefahren hat, sondern das Kindermädchen beauftragte. Durch die aufopfernde Liebe ihres Mannes übersteht die Künstlerin ihre schwere Depression und faßt nach langer Zeit wieder neuen Mut. Doch folgt bald schon der nächste Schicksalsschlag: Bei einem „Botengang“ für seine Frau stirbt Chris ebenfalls bei einem Unfall!

Nun aber geht Chris’ Geschichte auf der „anderen Seite“ weiter! Er erwacht in einer farbenfrohen und freundlichen Welt, die stellenweise wie aus den Landschaftsportraits seiner Frau entnommen wirken (die wiederum sehr an die Landschaftsbilder Caspar David Friedrichs erinnern!) – ein Zeichen für das starke Band zwischen den beiden und ein Ausdruck dafür, daß die gedankliche Innenwelt des Menschen im Jenseits zur äußeren Realität wird.

Im Jenseits steht von Beginn an ein liebenswerter Begleiter namens Albert Lewis (Cuba Gooding jr.) an Chris’ Seite, eine Art Schutzengel, der Chris begrüßt, in die neue Welt einführt und ihm letztlich zum treuen Freund bei seinem nahenden Abenteuer wird.

Chris versucht vorerst mit all seinem Willen, Kontakt zu seiner noch auf Erden lebenden Frau aufzunehmen, und es gelingt ihm auch, auf die feinfühlige, durch den Tod ihres Mannes verzweifelte Künstlerin einzuwirken, ihr einen Satz „einzugeben“, den sie auf einem Blatt Papier notiert – doch Annie erkennt nicht, daß Chris ihr nahe ist, und die starken Gedanken an ihn lassen sie nur noch verzagter werden.

Zuletzt kappt Chris aus Liebe die Verbindung, um seiner Frau nicht trotz bester Absichten noch mehr Schmerzen zuzufügen. Annie jedoch versinkt unaufhaltsam in Selbstvorwürfen und tiefster Depression, aus der sie zuletzt keinen anderen Ausweg findet als den Freitod. Nach dem Suizid findet sie sich in einer düsteren Hölle wieder, einer Umgebung also, die ihrer gedanklichen Innenwelt entspricht.

Als Chris davon erfährt, will er hinabsteigen, um Annie aus dem Abgrund zu retten – man fühlt sich dabei streckenweise an die Geschichte von Orpheus erinnert, der nach dem tragischen Ableben seiner geliebten Eurydike in den Hades steigt.

Trotz aller warnenden Appelle seines Freundes Albert läßt sich Chris nicht davon abbringen: Er muß hinab, um seine Frau aus ihrer Hölle zu retten, auch wenn es ihn seinen Himmel kosten könnte!

So atemberaubend schön, wie Regisseur Vincent Ward die himmlischen Ebenen in ihrer Farbenpracht und Kunstfertigkeit inszeniert, so gräßlich und zugleich realistisch präsentiert er die Ebenen der Hölle, die sich Chris nun auf dem Weg zu seiner Frau darstellen.

Unvergeßlich sind die Bilder von blühenden, gemäldegleichen Landschaften, die der Arzt mit seinem Freund durchwandert.

Erschreckend das von Chris zu durchquerende Feld, auf dem kahle, aschgraue Köpfe aneinandergepfercht und in großer Pein aus der Erde ragen, wie ein Kürbisfeld an einem traurigen Herbsttag. Beim Anblick dieser überaus plastischen Jenseitswelten verwundert es nicht, daß Regisseur Vincent Ward 1998 den Oscar für die besten visuellen Effekte erhielt.

Doch vertraute er glücklicherweise nicht allein auf seine „Special-Effects“-Abteilung, sondern bewies noch eine glückliche Hand mit der Besetzung der Charaktere, namentlich mit Robin Williams, dem die große und verantwortungsvolle Aufgabe zuteil wurde, die Handlung gegen die schiere Übermacht der opulenten Bilderflut zu verteidigen – Williams erspielt sich seinen Platz und beweist sich ein weiteres Mal als Hüter der Film-Veste!

Bei aller Filmkunst hat natürlich jede Geschichte in der Autonomie des Zuschauers ihre Grenze, und Bass’ Streifen definiert sich auch nicht als Lehrfilm oder Religionsersatz. Seine versteckte Hoffnung für eine bessere Welt fußt wohl eher auf einem ungeschriebenen Paradoxon, welches stets in Verbindung mit den letzten großen Fragen steht: Die Beschäftigung mit dem Tod erzeugt mehr Klarheit im Leben!

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