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„Platter Materialismus ist völlig unzureichend!“ – Ernst Ulrich von Weizsäcker

Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (geb. 1939 in Zürich) wurde durch sein Engagement für die Ökologische Steuerreform sowie den Emissionshandel, vor allem aber durch sein Hauptwerk „Faktor Vier“ bekannt. Der Sohn des berühmten Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker und Neffe des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ist Mitglied des „Club of Rome“ und seit 2008 Träger des renommierten „Deutschen Umweltpreises“.

In Ihrem bekannten Werk „Faktor Vier“ stellten Sie eine simple wie wirkungsvolle Strategie für ein umweltschonendes Wirtschaftswachstum vor. Durch den Einsatz effizienterer Technologien wollen Sie aus jeder Kilowattstunde Strom und aus jedem Liter Öl demnach das Vierfache an Wohlstand herausholen, also: doppelter Wohlstand bei halbiertem Naturverbrauch. Wie funktioniert diese interessante ökologische Gleichung?

Weizsäcker: Im Grunde gibt es zwei klare Forderungen, denen wir gerecht werden müssen. Wir wollen zum einen weltweit mindestens doppelt soviel Wohlstand. Diese soziale Forderung leuchtet sofort ein, wenn man die Misere in Städten wie Kalkutta, Lagos oder den Armengebieten von Sí£o Paulo vor Augen hat.

Andererseits sagen uns die Klimaforscher, daß wir dringend eine Halbierung der CO2-Emissionen, der Flächeninanspruchnahme, des Rohstoffverbrauches etc. benötigen, um überhaupt überleben zu können! Halbierter Naturverbrauch ist ein ökologisches Gebot, und doppelter Wohlstand ist aus sozialen Gründen geboten. Amory Lovins (USA) – mein Freund und Co-Autor des Buches – und ich sahen, daß man diese beiden scheinbar konträren Forderungen mit der konsequenten Zuhilfenahme schon bestehender Technologien unter einen Hut bringen kann und somit eine Vervierfachung der Ressourceneffizienz technisch möglich ist! Ein Paradebeispiel ist die Verwendung effizienter Energiesparlampen anstelle alter Glühbirnentechnik.

Wobei auch hier Stimmen laut werden, daß der in diesem Bereich tätige Vorreiter Philips trotz aller ökologischen Vorteile „alte“, quecksilberhaltige Technik verkauft und zudem die Helligkeit der Lampen zu wünschen übrig läßt!

Weizsäcker: Das ist schon richtig, dennoch ist Philips bei aller Kritik auch die Pionierfirma für die nächste Generation von sogenannten LED-Lampen, die weitaus besser sind als die heutigen Sparglühbirnen und natürlich auch kein Quecksilber mehr enthalten. Auf jeden Fall haben wir hier ein Beispiel, wo wir früher völlig ineffiziente Technik verwendet haben und heute auf effizientere umsteigen.

Man kann, um ein anderes Beispiel zu nennen, Autos so bauen, daß sie nur 1,5 Liter pro 100 km benötigen und konnte es schon, als wir vor zirka 15 Jahren unser Buch veröffentlichten! Man kann Häuser so herstellen, daß sie praktisch keine Heiz- oder Kühlungsenergie mehr benötigen. Man kann Lebensmittel so herstellen, daß sie eher Energie bringen als Energie fressen. Gerade in der Lebensmittelproduktion kann man sicher einen Faktor vier, auf Dauer sogar einen Faktor zehn herausholen.

In Kürze erscheint Ihr neues Buch mit dem Titel „Faktor Fünf“. Worin unterscheiden sich das Buch und Ihre heutigen Aussagen von „Faktor Vier“?

Weizsäcker: Das Buch „Faktor Fünf“, das im Frühjahr erscheinen wird, hat mit dem Australier Karlson Hargroves einen neuen Co-Autor. Wie man an der Ziffer des Titels sehen kann, sind wir in puncto Effizienzsteigerung ehrgeiziger geworden, außerdem fokussieren wir eher den asiatischen Raum, insbesondere China.

Im Unterschied zu „Faktor Vier“ gehen wir weniger technizistisch auf Einzelbeispiele ein, sondern betrachten eher ganze Branchen und Systeme. Zement kann man beispielsweise so herstellen, daß etwa nur noch ein Fünftel der CO2-Emissionen pro Tonne dabei entsteht. Außerdem gehen wir auf ein bisher vernachlässigtes Thema ein, den sogenannten „Rebound“- oder auch „Bumerang-Effekt“. Dieser Effekt bedeutet, daß alle Effizienzgewinne im Laufe der Zeit durch zusätzlichen Konsum „aufgefressen“ und sogar überholt werden.

In den USA, wo ich die letzten drei Jahre gelebt habe, hat zwar beispielsweise die Effizienz zugenommen, gleichzeitig ist jedoch auch der Verbrauch stark angewachsen. Wenn man also nichts gegen die Konsumzunahme, besonders in den reichen Ländern unternimmt, dann werden die erzielten Effizienzgewinne aufgezehrt, so daß am Ende nichts mehr übrig bleibt für den Klimaschutz und die Natur!

Arthus-Bertrand, Regisseur der ambitionierten Naturschutzdokumentation „Home“, meint, wir hätten nur noch ein schmales Zeitfenster von etwa zehn Jahren, um die aktuelle Entwicklung umzukehren. Auch der Bericht des Weltklimarats (IPCC) ist sehr alarmierend! Wie sieht die Lage nach Ihrer Einschätzung aus?

Weizsäcker: Es ist sehr zu befürchten, daß in puncto Klima dieses schmale Zeitfenster nicht genutzt wird! Die Chinesen, Inder, Brasilianer und weitere Länder haben im Vorfeld des Klimagipfels von Kopenhagen schon erklärt, daß sie keine bindenden Selbstverpflichtungen akzeptieren werden!

Die US-Amerikaner wiederum sitzen auf einem einstimmigen Senatsbeschluß von vor 12 Jahren, der klimarelevante Verpflichtungen und Zusagen ihrerseits ausschließlich von den Selbstverpflichtungen und der Kompromißbereitschaft der Chinesen, Inder, Brasilianer etc. abhängig macht! Wir sind tatsächlich in ganz erheblichen Schwierigkeiten!

In Ihrem Buch „Faktor Vier“ schrieben Sie: „China, Indien, Ägypten. Das Wettrennen um mehr Effizienz hat schon begonnen!“ Heute ist China frischgekürter CO2-Weltmeister noch vor den USA, dem „Ressourcenfresser Nummer eins“, und Indien versinkt in seinem Müll.

In China wiederholt sich doch gerade die industrielle Revolution abendländischer Prägung im Zeitraffertempo. Wo bleibt die Effizienz im wichtigsten und wachstumsreichsten Wirtschaftsraum der Welt? Wie gestaltet sich das Wettrennen heute, 15 Jahre nach „Faktor Vier“?

Weizsäcker: In China war unter Jiang Zemin bis vor wenigen Jahren eine Regierung an der Macht, die im wesentlichen konventionelles, aggressives Wachstum wollte. Die neue Regierung hingegen, die seit vier Jahren unter Präsident Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao agiert, ist sehr viel ökologischer eingestellt.

In ihrem aktuellen, also 11. Fünfjahresplan wurde eine Effizienzsteigerung um 20 Prozent eingetragen, und diese Forderung nehmen die Chinesen sehr ernst! Bei den Konjunkturprogrammen, die man im Zuge der Weltwirtschaftskrise in fast allen Ländern beschlossen hat, um aus der Flaute wieder herauszukommen, haben die Chinesen zusammen mit den Koreanern tatsächlich die größten ökologischen Anteile! Daran sieht man, daß China in den letzten Jahren sichtbar ein Bewußtsein für die Brisanz des Klimawandels entwickelt hat.

Gleichzeitig läßt die Regierung jedoch auch keinen Zweifel daran, daß um des Wohlstands und Fortschritts willen die Infrastruktur im alten Stil ausgebaut werden muß, und dieser Ausbau, den wir heute umwelttechnisch mit Sorge betrachten, werde laut der Führung sicherlich nicht vor 2030 abgeschlossen sein. So lange könnten sich die Chinesen beim internationalen Klimaschutz kaum beteiligen. Das Land wird bei alledem bis in das Jahr 2030 dennoch deutlich geringere Pro-Kopf-Emissionen haben als die Deutschen und erst recht als die US-Amerikaner. Deswegen fühlen sich die Chinesen nicht als die eigentlichen Schuldigen!

Sie haben geschrieben: „Warum sollen die Länder den verschwenderischen Umgang mit Energie übernehmen?“ Die Frage ist doch eher, ob die Schwellenländer der G 77 (ein loser Zusammenschluß von Staaten der „Dritten Welt“) durch den Druck der Globalisierung überhaupt eine Wahl haben, Sozial- und Umweltstandards und letztlich Effizienz í  la „Faktor Vier“ zu realisieren?

Erich Wagenhofers Film „Let’s make money“ beispielsweise dokumentiert, daß Investoren billige Arbeitskraft fordern und aus Renditegründen geradezu geringe Umwelt- und Arbeitsschutzstandards suchen. Wie soll in diesem Armutskreislauf der Rahmen für eine Effizienzsteigerung entstehen?

Weizsäcker: Was Sie hier ansprechen, ist ein gewaltiger und wichtiger Themenkomplex! Man muß die doktrinäre neoliberale Ökonomie der 1990er Jahre aufs schärfste kritisieren. Ich persönliche mache das, indem ich in meiner Kritik auf den Urvater der Marktwirtschaft, Adam Smith, zurückgreife.

Adam Smith ist nämlich völlig selbstverständlich davon ausgegangen, daß die geographische Reichweite des Rechts und des Staates mit der geographischen Reichweite des Marktes identisch ist. Dies bedeutet aber, daß die Marktteilnehmer geographisch gesehen nicht mit der „Beute“ davonrennen können! In Zeiten der Globalisierung ist genau dieses Grundprinzip verletzt worden, denn der Markt ist global und das Recht national, deswegen rennen die „Räuber“ mit der Beute davon und hinterlassen Niedrigstlöhne, Not und Elend.

Die Kapitalakkumulation [Anm.: = einseitige Kapitalanhäufung] scheint auf diese Weise keine Grenzen mehr zu kennen. In gewissem Sinne bin ich aber froh, daß diese Doktrin durch die Wirtschaftskrise 2008 endlich einen schweren Dämpfer erfahren hat. Doch unmittelbar nachdem sich Erholungstendenzen bemerkbar machten, mußte man leider beobachten, wie die Repräsentanten dieser Mentalität wieder aus ihren Löchern gekrochen kamen und allen Ernstes behaupten: Freier Markt! Deregulierung! Wir haben immer schon recht gehabt! Dies verdeutlicht, daß jene Sorte Mensch strukturell wohl unbelehrbar ist!

Scheinbar geht die alte „Party“ jetzt, nachdem wir die Krise unter gewaltigen Belastungen für die Allgemeinheit gerade einmal „fünf Minuten“ hinter uns gelassen haben, gerade so weiter wie gehabt! Viele halten anscheinend immer noch an der Vorstellung fest, daß der freie, ungezügelte Markt zum Wohle aller Menschen führt …

Weizsäcker: Adam Smith sagte auch, daß der Markt ganz bestimmte Dinge gar nicht regeln kann, und er hat dabei insbesondere die Infrastruktur gemeint. Er nennt zum Beispiel die Hafeninfrastruktur und die Leuchttürme, die kein Privatunternehmer je bauen würde, und dennoch sind sie für alle gut.

Dies verdeutlicht, wie sehr wir für vitale Funktionen wie Bildungs- und Gesundheitswesen, Verkehrs- und Umweltinfrastruktur usw. dringend einen stärkeren und nicht einen schwächeren Staat benötigen. Das ganze Treiben der Wirtschaftsideologen der 1990er Jahre bis heute ist auf Schwächung des Staates ausgerichtet, was ein riesiger Fehler ist! Wir benötigen eine Balance zwischen Staat und Markt!

Wer könnte diese Balance herstellen? Unternehmen agieren global, den Regierungen und deren Gesetzgebungen sind außerhalb der Landesgrenzen nahezu die Hände gebunden. Die Welthandelsorganisation (WTO), der einzige „Global Player“ der Staaten, kümmert sich traditionell nicht im geringsten um den Umweltschutz.

Weizsäcker: Eigentlich ist es die Aufgabe der Vereinten Nationen (UN), der G8 oder besser der G20, internationale Regeln, zum Beispiel für den Kapitalverkehr, zu etablieren. Auch die „Internationale Arbeitsorganisation“ (ILO) wäre als Sonderorganisation der UN ein kompetentes Gremium, da es sich heute schon weltweit für sogenannte Kernarbeitsnormen einsetzt oder bei Klimaverhandlungen für die Durchsetzung von Mindeststandards kämpft.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wiederum wäre für die Durchsetzung von bestimmten Hygienestandards, also gegen die Seuchenausbreitung zuständig etc. Anhand dieser Vielzahl an Gremien sieht man, daß es so etwas wie eine Weltinnenpolitik geben muß, ein Begriff übrigens, der von meinem Vater Carl Friedrich von Weizsäcker schon vor über 40 Jahren geprägt wurde. Wir benötigen, um es auf einen Punkt zu bringen, internationale Regeln zur Vermeidung der permanenten Aushöhlung der öffentlichen Güter!

So etwas zu etablieren, stelle ich mir kompliziert vor, gerade im Hinblick auf den protektionistischen Einfluß der USA!

Weizsäcker: Ist es auch! Hierzu bedarf es des Bewußtseinswandels, daß der Markt viele Dinge nicht nur nicht kann, sondern sogar schlimmer macht! Wenn dieser Bewußtseinswandel im wesentlichen da ist, wozu die Ereignisse der letzten Zeit beigetragen haben, dann besteht eine Chance, daß die UNO endlich wieder gestärkt wird.

Gibt es bei aller Faktor Vier-, Fünf- oder Zehn-Effizienz nicht auch eine Grenze des Machbaren, eine kritische Masse an Menschen, die sich mit denselben fatalen Mustern auf dem Planeten bewegt und deren ökologischer Fußabdruck immer größer wird?

Weizsäcker: Der Faktor Vier ist ja genau für die Verkleinerung des ökologischen Fußabdruckes gedacht. Wenn man um einen Faktor Fünf effizienter wird, dann schrumpft zum Beispiel der deutsche „Fußabdruck“ von derzeit fünf auf einen Hektar. Voraussetzung ist allerdings, daß man es richtig macht und den durch Effizienz erarbeiteten Vorteil nicht durch zusätzliches, übermäßiges Wachstum auffrißt!

Den Indern gönne ich beispielsweise ohne weiteres eine Verfünffachung des Wachstums – aber möglichst so, daß dabei der indische Pro-Kopf-Fußabdruck nicht wächst. Trotzdem wird es irgendwo auch Grenzen der Wohlstandsvermehrung geben, und hier wird man nicht umhin kommen, auch Genügsamkeit, Bescheidenheit oder Suffizienz lernen zu müssen.

Es ist ja in allen alten Kulturen und großen Religionen völlig klar gewesen, daß die Maßlosigkeit und die Gier ein Zeichen von Unreife ist! Sobald sich das Bewußtsein über die ökologische Begrenztheit der Erde deutlich durchsetzt, bin ich mir sicher, daß auch die Suffizienz wieder einen kulturellen und politischen Wert bekommt.

Die USA als Fallbeispiel: Dort erlebt man ein rasantes Schrumpfen der Mittelschicht, die Schere zwischen Arm und Reich wird größer, Städte veröden, der Bildungsstand der Massen ist miserabel. Ist das nicht auch eine direkte Folge ineffizienter Technologien, von Energieverschwendung?

Die Kriege für den Rohstoff Öl kosten doch Hunderte von Milliarden Dollar, die der Steuerzahler zu begleichen hat. Die Wirtschaft baute Jahrzehnte auf billiges Öl und hinkt nun in Zeiten der Krise und des Sparens in puncto Effizienz völlig hinterher. Sie gehen sogar einen Schritt weiter und bringen die Weltwirtschaftskrise sehr konkret in Verbindung mit der amerikanischen Art des Lebens …

Weizsäcker: Es ist völlig richtig, daß die ideologische Festlegung der amerikanischen Republikaner auf billigste Energiepreise, auf Expansion im Inneren wie im Äußeren eine wesentliche Ursache für die gegenwärtige Krise ist und auch für das Aufreißen der Schere zwischen Arm und Reich. Ich unterstelle den Republikanern jedoch auch, daß sie wirklich geglaubt haben, diese fortschreitende Expansion brächte auch den Armen eine Besserung!

Eine Zeitlang sah es tatsächlich so aus, als ob diese Rechnung aufgehen würde, indem nämlich Familien, die sich vor einer Generation noch kein Haus leisten konnten, plötzlich eines besaßen; allerdings 50 Meilen außerhalb des Arbeitsplatzes! Als dann nicht etwa durch die Benzinsteuern in den USA, sondern durch die Weltmärkte der Autotreibstoff teurer wurde, haben die Häuser ganz weit draußen plötzlich an Wert verloren, weil das Pendeln durch die Spritpreise auf einmal unerschwinglich wurde. Gerade die Ärmeren sahen sich gezwungen, in Wohnwagen herumzupendeln, um nur irgendwie in der Nähe ihres Arbeitsplatzes zu wohnen. Die Folge war ein unvermeidlicher Wertverlust der nun brachliegenden Häuser.

Da diese Immobilien zudem alle „auf Pump“ gebaut waren, konnten die Menschen nun auch ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen, woraufhin die Hypothekenbanken kollabierten. Im Anschluß sind immer weitere Teile des Finanzsystems zusammengefallen, besonders die Banken, die mit Immobilienspekulationen zu tun hatten. In Windeseile ist die ganze Finanzwelt aus den Fugen geraten, mit Ausnahme der Banken, die sich nicht an dem „Immobilien-Drahtseilakt“ beteiligt hatten, wie zum Beispiel die sozial-ökologische GLS Bank.

In „Zivilisiert den Kapitalismus“ von Marion Gräfin Dönhoff heißt es: „Als Wirtschaftssystem ist die Marktwirtschaft unübertroffen. Für eine Sinngebung hingegen reicht sie wirklich nicht aus. Sie ist sehr possessiv. Die Marktwirtschaft beansprucht den Menschen ganz und duldet keine Götter neben sich. Ihr Wesen ist der Wettstreit und ihr Motor der Egoismus: Ich muß besser sein, mehr produzieren, mehr verdienen als die anderen, sonst kann ich nicht überleben. […] Alles Metaphysische, jeder transzendente Bezug ist ausgeblendet, das Interesse gilt ausschließlich dem wirtschaftlichen Bereich: Produzieren, Konsumieren, Geldverdienen.“

Ihr „Faktor Vier“ steht für eine intelligente Umweltpolitik ohne Konsumverzicht, die aber von Technologieoptimismus geprägt ist. Bei allem muß der Mensch doch letztlich aber mitziehen und … innerlich mitwachsen! Geht es bei den ganzen Debatten um Nachhaltigkeit und Effizienz im Grunde nicht um die Besinnung des Menschen auf seine geistigen Wurzeln und damit um ein neues Bewußtsein? Ist nicht das der Paradigmenwechsel? Die Botschaft kann doch nicht sein: die Technik richtet es schon! Geht es letztlich nicht um die Abkehr vom materiellen, rein verstandesgeprägten Prinzip des Menschen, das mit seinem Effekt der raschen Wunschbefriedigung ständig im Streit mit den Ideen der Nachhaltigkeit, also des Reifens, des Hegens und Pflegens steht?

Weizsäcker: Gräfin Dönhoff hatte vollkommen recht, der platte Materialismus ist völlig unzureichend! Ich halte es für dringend nötig, zu einem besseren Menschenbild als dem von Thomas Hobbes zu kommen, der den Egoismus als anthropologische Grundaussage postuliert und bejaht hat. Es gibt hierzu eine interessante anthropologisch-historische Analyse von Mary Clark, einer amerikanischen Autorin, die besagt, daß alle Gesellschaften, die auf diesem Egoismus aufbauten, sich letzten Endes zugrunde gerichtet haben.

Wir brauchen also eine Art von solidarischer Weltgemeinschaft und eine solidarische menschliche Gesellschaft, doch davon sind wir weit entfernt! Der gesamte angelsächsische Kulturraum basiert einerseits auf Thomas Hobbes’ Anthropologie und andererseits, weil dieser theoretische Unterbau natürlich nicht ausreichen kann, oft auf fundamentalistisch religiösen Absurditäten!

Das Prinzip, das sich heute auslebt, ist doch ein Produkt einer absolut einseitigen analytischen Verstandestätigkeit, fernab von jedem Gemüt, jeder Wertevorstellung und Empfindungstiefe des Geistes. Die Frage ist doch, inwieweit der Mensch überhaupt fähig ist, die von ihm ausgehende globale Gefahr zu erkennen?

Weizsäcker: Ich möchte hierzu gerne eine historische Anekdote erwähnen, die deutlich macht, wie das mit der Bereitschaft, Gefahren wahrzunehmen, aussieht. Wenige Jahre nachdem das Penicillin von Sir Alexander Fleming in den 40er Jahren entdeckt worden war, tauchten weltweit Penicillin-resistente Keime auf, wovon Insider auch wußten. Dennoch erreichte dieses Wissen nie wirklich die Öffentlichkeit, und selbst als die Wahrheit hier und da aufblitzte, wurde sie von den Massen verdrängt, auch von der Medizinindustrie.

Erst als die pharmazeutische Industrie neue Antibiotika entwickelt hatte, wurde es plötzlich zum Geschäftsinteresse der Pharmaindustrie, über Penicillinresistenz zu reden, wurde es zum guten Ton des Arztes, seine Patienten über die möglichen Gefahren aufzuklären! Der Mensch scheint so gestrickt zu sein, daß er Gefahr erst dann wirklich wahrnimmt, wenn er einen Ausweg daraus sieht! Deswegen halte ich es für wichtig, Positivperspektiven zur Überwindung von Fehlern anzubieten, damit auf diese Weise, quasi „unterhalb des Gehirns“, positive Lebensformen und Glück wieder gemütvoll wahrgenommen werden können.

Herr von Weizsäcker, vielen Dank für dieses aufschlußreiche Gespräch!

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