lebenswertes

Die Eleganz der Madame Michel

Manche Tage sind voll Rastlosigkeit und Unruhe, voll ständig aufkeimender Fragen. Weltschmerz plagt das Gemüt und nichts, was Ablenkung sonst vergessen macht, befriedet den Kampf, der in der Seele tobt, löscht die schwelende Glut in der Magengrube, die einen derart in Angst vor einem Flächenbrand versetzt. Es scheint in diesen Spannen manchmal so, als sei man Teil eines gigantischen Gesellschaftsspieles, dessen Regeln man weder kennt, noch mitzumachen sich je bereit erklärt hat, ein Spiel, das, selbst nachdem man sich in seiner Verzweiflung darauf eingelassen hat, nie ernsthaft mit der Hoffnung aufwarten kann, der Suchende würde irgendwann den ominösen Preis finden, der das unverstandene Leid in der Brust erklären könnte! „Der sensible Mensch leidet nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern ganz allein, weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht stillen kann.“ (J. P. Sartre) Zum Kampf gegen diese Windmühlen gibt es für den empfindsamen Menschen der Jetztzeit, so betrachtet, keine Option, denn wehrt er sich trotz aller ihn überkommenden Unsicherheit nicht mutig mit Sensibilität und Offenheit gegen die Erstarrung, die er dichter werdend über sich zusammenziehen spürt, so wird ihm die Welt bald zur flachen Scheibe, in der es außer immer neuen Verlustängsten nichts mehr zu entdecken gibt, ein Goldfischglas aus gesellschaftlichen Konventionen, das er mit all jenen zu teilen gezwungen sein wird, die durch die bedingungslose Identifikation mit den Gedanken schon längst zum Spielball ihres Verstandes geworden sind. Ein Mensch, der trotz der alarmierenden Hinweise weiterhin nur zaghaft den Traum des Erwachens zu träumen wagt oder sich gar mit dem Weckruf des Weltschmerzes arrangiert, ansonsten aber den von Gedanken und Gefühlen erzeugten Film als eigentliche Realität betrachtet, kann seinen Taten nie die ersehnte Dimension von Licht und Liebe, Schönheit und Reinheit, Poesie und Gerechtigkeit einhauchen …

Die elfjährige Paloma Josse (Garance Le Guillermic), Tochter eines reichen Politikers, hochintelligent und für ihr Alter schon schrecklich geschärft für die Unlogik der Erwachsenenwelt, kann dem Leben inmitten ihrer neurotischen Familie und des sterilen Luxuslebens in einer jener sündhaft teuren Pariser Stadthauswohnungen wenig abgewinnen. Längst schon gelangte das sensible Mädchen durch ihre messerscharfen und teils zynischen Analysen zum Schluß, sie könne nichts des reichen Innenlebens, das sie gerade noch so wunderbar bewußt in sich pulsieren spürt, in das Erwachsenwerden hinüberretten. In diesem unheilvollen Milieu, dessen ist sie sicher, wird irgendwann auch für sie der Tag kommen, an dem sie in demselben Goldfischglas wie alle anderen schwimmen wird. Wozu also weitermachen, wenn die Zukunft keinen Platz für Schönheit oder Anmut bereithält und alles Streben auf Neurose, Ablenkung, Furcht und Unzufriedenheit hinausläuft?

Ein Kunstgriff Mona Achaches, die mit „Die Eleganz der Madame Michel“ 2010 ein überaus poetisches und auch erfolgreiches Regiedebut ablegte, erlaubt es dem Zuschauer, an Palomas Gedanken und Gefühlen quasi live teilzuhaben, denn um zu jenem vernichtenden Fazit über das sie umgebende Gesellschaftsgefüge zu kommen, observiert sie mit einer Kamera auf der Lauer liegend in kurzen Videotagebucheinträgen die Erwachsenenwelt und kommentiert dabei wie Grzimek bei „Ein Platz für Tiere“ aus dem Off das so vorhersehbare und repetitive Verhalten der volljährigen Artgenossen, die ihr bei den weitläufigen Feldstudien bald wie eine fremde, zum Aussterben verurteilte Gattung vorkommen! Die nachdenklich stimmenden Recherchen der kleinen Misanthropin nötigt sie im Anbetracht des Tiefgangs ihrer Gedanken allerdings zu einer fatalen Fehlentscheidung: Selbstmord! Paloma geht bei ihren Betrachtungen leider auch mit ihrem eigenen Dasein recht streng ins Gericht, und so resümiert sie mit dem professionellen Abstand, den ein Forscher zu seinem Forschungsobjekt eben haben muß, daß der Schierlingsbecher – in diesem Fall die über Monate zusammengeklaubten Schlaftabletten Mamans – der zu Erkenntnis gelangten Philosophin eine bessere Alternative ist, als am Ende Teil des enttarnten Irrsinns namens Erwachsenenwelt zu sein! Wenn der Lauf der Dinge sich schon nicht aufhalten läßt, dann will sie ihrem Dasein wenigstens in der Blüte aller möglichen Schönheit ein Ende bereiten – es sei denn … bis zu ihrem 12. Geburtstag fände sich ein Augenblick vollkommener „Harmonie in der Bewegung der Welt“, der Zugang zu einer Sichtweise also, die das bisher so fein in sie rinnende Licht verankert hielte und somit die Unbill des Lebens zu einer tragbaren Last werden ließe!

Der Suizidwunsch eines Kindes, der sich zudem gleich zu Beginn des Streifens ankündigt, ist natürlich harter Tobak, dennoch mag im Zuschauer trotz dieses unangenehmen Gedankens zu keinem Zeitpunkt große Bedrückung aufkommen, steht bei Achache auch nicht die dezidierte Reise in Gefühlsabgründe, nicht Trauer oder Depression auf dem Programm, sondern ein philosophischer und dabei ebenso gemütvoller Diskurs über das Sein und den Sinn in der Moderne. Es sind dabei die vielen kleinen Anspielungen aus Kunst und Kultur, die filigranen, zu leben erwachenden Zeichnungen Palomas, die das Szenenbild so wundervoll bereichern und – natürlich – die beeindruckende Leistung der Schauspieler, die in Achaches Inszenierung jenes Leitmotiv der Eleganz so glaubhaft zum Leben erwecken …

Im Grunde treffen sich in dem der Seine nahen Stadtpallais an der Rue de Grenelle zwei Prototypen, die – nichts von dem Weltschmerz des anderen wissend – auf die desillusionierende Wirkung heutigen gesellschaftlichen Lebens ganz unterschiedlich reagieren, im Aufeinandertreffen und Erkennen der Gleichartigkeit jedoch Kräfte der Liebe und Zuversicht freisetzen. Neben Paloma, die das Spiel ja erst gar nicht mitzumachen gedenkt, wäre da noch die Parterre lebende Concierge des Hauses, Madame Renée Michel (Josiane Balasko), die alle Vorurteile einer schlecht gelaunten und einsilbigen Hausmeisterin fein kultiviert. „Ich bin Witwe, ziemlich klein, häßlich und mollig. Ich entspreche genau dem Klischee einer Concierge.“ Was keiner wissen soll: die ruppige Witwe tarnt sich mit diesen Äußerlichkeiten vor der Blasiertheit der reichen Mieterschaft, vor allem möchte sie sich mit der Maskerade aber von allen gesellschaftlichen Zusammenrottungen und daraus möglicherweise ergebenden Bindungen abgrenzen. Paloma spürt jedoch schnell, daß hinter der Fassade mehr steckt. „Madame Michel erinnert mich an einen Igel; nach außen hin ist sie mit Stacheln gepanzert, aber ich glaube, sie ist innen genauso sensibel wie diese kleinen Tiere, die totale Einzelgänger sind und dabei so unwahrscheinlich elegant.“ Nach einer Weile ist auch dem Publikum klar: in dieser Madame Michel wohnt ein feiner Geist, beseelt von der Liebe zu Literatur, Musik und Film. Selbstredend, daß eine Frau, deren Kater, in Anspielung an Tolstoi, Leo heißt, auch ein Faible für Bücher haben muß, und tatsächlich versteckt sich in einem geheimnisvollen und stets verschlossenen Zimmer ihres Apartments eine stattliche Bibliothek, gespickt mit Klassikern der Weltliteratur. Wenn Madame Michel dort nächtens in ihrem Ohrsessel Platz nimmt, der fette Kater gemütlich auf ihrem Schoß liegt und sie sich beim Lesen endlich das erste Lächeln des Tages gönnt, spürt man auch als Zuschauer die Wellen der Geborgenheit, die jene Dame auf der Leinwand gerade umfließen muß.

Was noch keiner der beiden weiß: die Tage der selbsterwählten Isolation sind durch den Einzug eines neuen Mieters bereits gezählt! Als die Concierge Herrn Kakuro Ozu (Togo Igawa) bei dessen erster Visite gewohnt schmallippig mit einem Zitat aus Tolstois Anna Karenina abspeisen möchte – „Alle glücklichen Familien gleichen einander“ –, bröckelt ihre Tarnung das erste Mal, denn durch die prompte Antwort des japanischen Edelmanns – „Alle unglücklichen Familien sind auf eigene Art unglücklich“ –, mit der er die Buchstelle fortführt, wird der sichtlich erstaunten Frau klar, daß Ozu drauf und daran ist, ihr auf die Schliche zu kommen … wer zitiert beim Hausmeister zwischen Tür und Angel auch schon Tolstoi?! Ohne sich von der so glaubhaft zur Schau getragenen Abwehrhaltung der Concierge beeindrucken zu lassen, verliebt sich Herr Ozu in das scheue Wesen hinter der groben Fassade und macht Madame Michel auf sehr einfühlsame, stilvolle Art und Weise den Hof. Liebe – für die bisher so verschlossene Dame ein längst abgeschriebenes Gefühl, auf das sie sich nur langsam wieder einlassen kann.

Mit Herrn Ozus Einzug kommt endlich Bewegung in die erstarrten Sichtweisen der beiden desillusionierten Damen, denn neben der Hausmeisterin entdeckt auch Paloma in dem feinsinnigen Menschen, den so viel stille Freude zu umfließen scheint, einen wohltuenden Seelenverwandten, einen jedoch, der dem Dasein mit einer gänzlich anderen Haltung entgegentritt. Gleichwohl er den Weltschmerz Palomas und Madame Michels zu kennen scheint, kultiviert der Samurai ohne Schwert keine Weltflucht, sondern im Gegenteil Geistesgegenwärtigkeit, völlige Präsenz und Offenheit, eine elegante Haltung, die Mut und Würde zeigt und dabei Tag um Tag mehr Licht in das bisher so angstvolle Seelenleben in der Rue de Grenelle 7 bringt …

Die mobile Version verlassen