lebenswertes

Bhopal, das „Verkehrsdelikt“

Der Tod kam in der Nacht zum 3. Dezember 1984, wie der Dieb aus dem bekannten Gleichnis. Was der lautlose „Delinquent“ jedoch den bitterarmen Bewohnern des Elendsviertels der indischen Metropole Bhopal zur Schlafensstunde rauben konnte, waren keine Besitztümer; sie hatten nur noch ihr im indischen Kastenwahn schutzlos preisgegebenes, fragil flackerndes Lebenslicht. Das Giftgas, das in jener Nacht gegen 21.30 Uhr aus den Tanks des anliegenden Chemiewerkes austrat, nahm es den Betroffenen oder zerstörte den letzten Rest ihrer kümmerlichen Gesundheit! Die Chronik des schwersten Industrieunfalls aller Zeiten zu studieren, heißt, die unvorstellbaren Dimensionen menschlicher Gier und Arroganz zu erforschen und angesichts der sich hier auftuenden Abgründe vor seiner eigenen Spezies zu erschrecken …

Gier war es, die Union Carbide 1977 in ein Niedriglohnland trieb und den US-amerikanischen Chemiekonzern – betört durch die laxen Sicherheitsvorschriften auf dem Subkontinent und den schier grenzenlosen Zugriff auf billige, gewerkschaftlich unorganisierte Arbeitskräfte – von Gewinnen außerhalb des üblichen Rahmens träumen ließ. Zudem mußte bei der Standortwahl nicht befürchtet werden, daß je ein einfacher Inder wegen möglicher Umweltbelastungen auf die Barrikaden gehen würde: Wen hätte ein Protest ohne Lobby und Fürsprecher in einer völlig unbedeutenden Stadt des wenig beachteten Bundesstaates Madhja Pradesh irgendwo in Zentralindien auch interessiert?

Nachdem das Chemiewerk tatsächlich ohne nennenswerte Widerstände in Betrieb ging, schoß bald rings um die Mauer der Industrieanlage eine Wellblechhütte nach der andere aus dem Boden, bis schließlich ein chaotisch wucherndes Elendsviertel ohne Strom, Kanalisation und fließendes Wasser entstanden war, das die zuständige Behörde duldete, während im Werk das hochtoxische Substanzen wie das Schädlingsbekämpfungsmittels Sevin hergestellt wurden.

Als Anfang der 1980er Jahre der Absatz der 2500 Tonnen chemischer Substanzen, die in Bhopal jährlich produziert wurden, wegen weltweiter Überproduktionen stagnierte, sahen sich die Manager bei Union Carbide zu Kostensenkungsmaßnahmen veranlaßt. Laut dem Online-Lexikon Wikipedia wurden in den daraufhin folgenden Monaten kontinuierlich Personal reduziert, Wartungsintervalle verlängert und Austauschteile durch kostengünstiges Material ersetzt – Sparen an falscher Stelle nennt man so etwas. In der Summe betrachtet führten allerdings nicht nur Mißmanagement, sondern auch Bedienungsfehler der Belegschaft und die vernachlässigte Aufsichtspflicht indischer Behörden fast zwangsläufig zu jener folgenschweren Katastrophe.

Die Hauptchemikalie Methylisocyanat, die im Werk verarbeitet wurde, reagiert extrem stark mit anderen Stoffen. Die Sauberkeit und die Kühlung der Tanks, die zur Lagerung der Substanz dienten, waren also sehr wichtig. Wieso nun dennoch gerade bei der Kühlanlage der Rotstift angesetzt wurde, bleibt vor diesem brisanten Hintergrund absolut schleierhaft, beinahe genauso schleierhaft, wie der Grund, weshalb man den Rieselturm, der zur Neutralisierung freigesetzter Gase zum Einsatz kommen sollte, deaktiviert hatte oder warum auch die Anlage zur Abfackelung austretender Gase abgeschaltet war. Zusammen mit der ebenso nicht nutzbaren vierten Sicherheitsbarriere, einem leeren Ausweichtank für austretende Gase, waren zum Unglückszeitpunkt quasi alle relevanten Sicherheitsmaßnahmen aus Kostengründen außer Funktion! Der Auslöser, der am 3. Dezember 1984 die Kettenreaktion vermutlich ins Rollen brachte, war den meisten Berichten zufolge schlicht Wasser. Wieso es genau in jene Tanks eindrang, die damit auf keinen Fall in Kontakt kommen durften, ist bis heute nicht geklärt. Diskutiert werden drei Hypothesen: die Verwechslung einer Wasserleitung mit einer Stickstoffleitung, das Eindringen von Wasser durch lecke Ventile und – die Lieblingsthese Union Carbides, die natürlich auch mögliche Schadensersatzansprüche dämpfte – Sabotage durch absichtliche Wassereinleitung! Laut dem US-Konzern hätten angeblich indische Arbeiter aus Unzufriedenheit mutwillig einen Unfall hervorgerufen – eine schwache These, die allerdings im beinahe drei Jahrzehnte währenden Justizmarathon (!) erfolgreich seine Runden zog!

Als in Folge der chemischen Reaktionen die Überdruckventile das tödliche Gemisch in die Umgebung entließen, starben im unmittelbaren Umkreis der Anlage schätzungsweise 2.500 bis 5.000 Menschen. Die Opferzahlen variieren stark, da die Bewohner der Slums zahlenmäßig nie vollends erfaßt wurden. Bis zu 40 Tonnen der ätzenden Substanz legten sich im Laufe der kommenden Stunden wie eine Glocke über das Elendsviertel und trieben in der höchsten Konzentration kurz nach Mitternacht die von Schmerzen gepeinigten Menschen auf die Straßen. Das Gas verätzte ihnen Augen, Lungen, innere Organe, Schleimhäute. In einem Bericht der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ schilderte Mohammed Sultan seinen Überlebenskampf: „Meine Lungen brannten wie Feuer, meine Augen schwollen zu. Ich packte zwei meiner Kinder und rannte los …“ – ehe er ohnmächtig auf der Straße lag und den Dämpfen schutzlos ausgesetzt war! Heute ist Sultan ein schwergezeichneter Mann, der wegen seiner kaputten Lungen ans Krankenbett gefesselt ist und ohne Inhalationsgerät wohl keinen Tag überleben würde.

Von den etwa 500.000 Menschen, die das Gas einatmen, werden in den folgenden Jahrzehnten bis 2010 zirka 100.000 an chronischen Krankheiten leiden – wie Sultan. Insgesamt geht man heute von insgesamt bis zu 25.000 Todesopfern aus, wobei ein Ende des Schreckens nicht absehbar ist!

Noch stehen die Ruinen des Werkes, ragen angebissene Mauerstücke, abgebrochene Stützpfeiler und bizarr verbogene rostbraune Stahlstreben in die Höhe, dazwischen der explodierte Tank. Weder der US-Konzern Dow Chemical, der Union Carbide ohne dessen Indien-Anteile und damit auch ohne dessen „Altlasten“ im Jahre 2001 übernahm, noch der indische Staat – der Käufer ebendieser „Indien-Anteile“ – wollen für die kostspielige Sanierung des verseuchten Areals aufkommen. Zwischenzeitlich sind die Betroffenen Slumbewohner gezwungen, ihr Dasein in einer Sondermüllkippe zu fristen, die mit Tonnen freiliegender Chemikalien und Quecksilber verseucht ist! Noch heute kommen in Folge des Unglücks schwer mißgebildete Kinder auf die Welt, sterben nach Schätzungen von Ärzten pro Monat etwa 30 Menschen an den Folgen massiver Luft- Boden und Wasserverseuchung. Ein Vierteljahrhundert nach dem Unglück von Bhopal bevölkern verkrüppelte, gelähmte und behinderte Giftgasopfer die Region und kämpfen immer noch für ihre Rechte, für Genugtuung, für eine finanzielle Kompensation. Ein skandalöser Umgang mit den Opfern, der verdeutlicht, wie menschenverachtend hier verfahren wird.

Eine besondere Farce sind in dieser Angelegenheit die langwierigen Verfahren und offensichtlich sehr einseitigen Urteile der indischen Justiz! 1989, fünf Jahre nach dem Unglück, einigten sich der indische Staat und der US-Konzern auf eine Zahlung von 470 Millionen Dollar – ein Sechstel weniger als ursprünglich veranschlagt! Mit dieser in Anbetracht der hohen Opferzahlen lächerlich geringen Summe konnte sich der Chemiekonzern von sämtlichen Schadensersatzansprüchen freikaufen. Doch fand das Geld nicht einmal seinen Weg bis zu den Opfern. Es versandete zum großen Teil in den Kanälen des indischen Beamtentums.

Ein anderes Verfahren, das die Schuldfrage klären sollte, zog sich über 26 Jahre dahin und endete erst 2010, nach dem die Opfer 19 Instanzen durchlitten hatten – „Sterbenlassen kommt billiger“ hieß hier wohl die Taktik! Damit übertrumpfte der amerikanisch-indische Justizskandal das Gerichts-Hickhack der Exxon-Valdez-Katastrophe, bei der es um dieselbe juristische Suche nach einem Verantwortlichen ging, um fünf Jahre – ein Weltrekord der Unverschämtheit, den sich Megakonzerne anscheinend leisten können! Wie bei der Ölkatastrophe 1989, bei der ein betrunkener Kapitän einen dünnhäutigen Supertanker samt seinen 40.000 Tonnen Rohöl gegen den Felsen eines empfindlichen Naturschutzgebietes rammte und der Exxon-Konzern – alias Esso – lediglich mit einer lächerlichen Strafzahlung belegt wurde, hörnte auch in Indien ein schockierend mildes Urteil die Geschädigten: Sieben indische Union-Carbide-Angestellte wurden zu zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von nicht einmal 1800 Euro verurteilt. Nach einer Kaution saßen die Verurteilten zum Abendbrot schon wieder bei ihren Familien! Der Opferanwalt Satinath Sarangi kommentierte das Urteil in einem Bericht der FAZ mit den Worten: „Das schlimmste Industrieunglück der Welt wurde auf ein Verkehrsdelikt reduziert!“

Von den offenen Gerichtsverfahren gegen den damaligen, heute 89jährigen Union-Carbide-Chef und weitere hochrangige Manager sollte man sich auch nichts erhoffen, da einflußreiche politische Mächte ihre schützende Hand über sie halten. Die Angeklagten werden irdisch wohl nicht zur Verantwortung gezogen werden. Doch was heißt das schon? Das Gewissen nimmt man schließlich überall hin mit, und die unsichtbaren Schicksalsfäden, die die Täter mit ihren Opfern verbinden, sind resistent gegen juridische Tricks und halten fest.

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